Samstag, 28. Januar 2012

Der letzte Zug


Der letzte Zug

Vor ihnen liegt der See. Windstille. Die morgendlichen Nebel haben sich zögernd aufgelöst, sind einer noch wankelmütigen Sonne gewichen. Zwischen den Ufersteinen verlieren sich die Wellen mit leisem Geplätscher. Die mächtigen Bäume entlang dem Ufer zeigen erstes Grün. Von nahen Bauernhof das Geläut einzelner Kuhglocken. In der Ferne der verschwommene Klang von Kirchenglocken, Mittagszeit.

Die grosse Arbeit ist getan! Dabei ist gestern für sie gar nicht mehr viel angestanden. Heute, diesen einen Tag auf der Hinreise haben sie sich ausbedungen. Morgen würde das Familientreffen stattfinden. Eine fröhliche und immer grösser werdende Runde, wie jetzt jedes Jahr.

Was würden die Dichter und Denker wohl dazu sagen? Sie, die vor Jahrhunderten hier Unterschlupf, Musse und willfährige Musen gefunden hatten? Ein erster prächtiger Frühlingstag und das altehrwürdige Restaurant und Hotel zu dieser verlockenden Jahreszeit noch geschlossen.

Verriegelt, wie damals. Ja, und wiederum haben sie im Vertrauen auf eine gastfreundliche Bewirtung weder was zum Trinken noch zum Knabbern dabei. Aber eine Decke um darauf am Ufer zu liegen, die haben sie diesmal nicht vergessen. Soviel haben sie die vergangenen vierzig Jahre gelehrt. Sie würden heute zweifellos die einzigen Besucher dieser romantischen Halbinsel bleiben, heute. Während der Sommermonate wird es um die beschauliche Stille hier geschehen sein. Nur selten sind sie im Sommer hergekommen, haben den Frühling vorgezogen um ihres Jahrestages hier zu gedenken. Immer seltener leider hatte sich in den vergangenen Jahren Gelegenheit für diese ihnen einst so wichtige Einkehr ergeben. Ihre Berufe und ihre familiären Verpflichtungen hielten sie auf Trab. Sie hatten sich oft mit kommenden Jahren getröstet und ihrer beider Ruhestand herbeigesehnt. Und doch bleiben ihnen auch jetzt, nach Aufgabe all ihrer Geschäfte, kaum Tage ohne irgendwelche Verpflichtungen.

Sie ist in seinem Arm eingedöst. Das rücksichtslose Geschnatter unversehens aufgetauchter Enten hat ihn wohl  geweckt. Er streichelt ihr eine widerspenstige Locke aus der Stirn. Ihre Haare wie immer sorgsam gepflegt, ein kastanienbraunes Dunkel, jetzt adrett geschnitten. Nur wenige Sonnenstrahlen genügen, auch in tiefstem Winter, und reihum wird sie nach ihrem letzten Urlaub gefragt. Ihr Antlitz jugendlich geblieben, wie einst. Ihre kunstvollen Ohrstecker haben es ihm schon immer angetan. Ihm selbst wird immer erst dann wieder bewusst, dass an ihm die Jahre nicht spurlos vorüber gegangen sind, wenn er sich auf einem der Fotos seiner längst erwachsenen Kinder wiedererkennt. Sein Spiegelbild bei der täglichen Rasur konfrontiert ihn selten mit dieser nüchternen Tatsache. Zu sehr haben sich er und sein ihm wohlbekanntes Abbild an einander gewöhnt.

Die gedruckten Anzeigen ihrer Verlobung endlich in Händen, war er sich jählings seines Mutes nicht mehr sicher gewesen. Alles war ihm plötzlich als zu überstürzt umgesetzt erschienen. Er liebte sie innig, kein Zweifel, doch zu überraschend war es über sie beide gekommen. Sie, eben einer fragwürdigen Beziehung entkommen. Für ihn eine mehrjährige Partnerschaft vor wenigen Monaten erst zu Ende gegangen. Wollte, sollte, konnte er sich eine neue Verpflichtung leisten? Mochte er die Aussicht auf Verlust, Trauer und unsägliche Leere noch einmal auf sich nehmen, wenn auch dies nur ein Abenteuer sein und letztlich ins Leere laufen sollte? War er sich ihrer wirklich sicher? War er sich seiner eigenen Gefühle für sie im Klaren?

Aber trotz seines Zögerns, sie hatten sich bereit gefühlt für einander und schliesslich hatte er sich auch über seine letzten Vorbehalte hinweggesetzt. Purer Zufall hatte sie zusammengeführt. Alles hatte so zauberhaft begonnen. Dann, ihr erster gemeinsamer Ausflug. Damals eben noch ohne die bequeme Liegedecke. Er war mit der Bahn gekommen und sie hatte versprochen ihn rechtzeitig am Bahnsteig zu erwarten. Gleich bei der Einfahrt des Zuges hatte er sie entdeckt. Nicht zu übersehen. Ihr orangefarbener Mantel, Mode der Wahl damals.. Allerding hatte sie ihn am entgegengesetzten Ende des Bahnsteigs erwartet und so war sein Wagon zunächst kaum gebremst an ihr vorbeigebraust. Er hatte sich unter die Aussteigenden gemischt und sich unerkannt hinter einer Säule verborgen. Der Bahnsteig hatte sich entleert und er hatte sie gemessenen Schrittes der Treppe zugehen sehen. War sie verunsichert, enttäuscht ob seines offensichtlichen Ausbleibens? Was hatte sie sich von ihrem Treffen erhofft?

Doch da hatte sie ihn auch schon entdeckt.

Alles hatten sie sich noch offen gelassen, nichts Konkretes hatten sie geplant. Seinen Vorschlag mit der romantischen Halbinsel nahm sie begeistert auf. Die rasante Fahrt in ihrem gelben Mini mit schwarzem Velourdach – gelb und schwarz, der Kriegsbemalung  von Wespen und Hornissen nicht unähnlich – wurde zur sportlichen Herausforderung. Erst Jahre später würden Sicherheitsgurten und Airbags zum Standard gehören. Während ihrer Wanderung zum Ende der Insel erzählte von ihrem kürzlichen turbulenten Ausflug mit ihren Musikerkollegen hierher und von andern musikalischen Abenteuern.

Beim kleinen, verwaisten Bootshafen des Inselrestaurants fanden sie eine einsame Bank. Die noch nahezu kahlen Trauerweiden spendeten dennoch bereits etwas Schatten. Sie sprachen von Vergangenem, ihren Neigungen und ihren Wünschen für die Zukunft. In der Matrix ihrer beider Vorsätze und Visionen suchten sie unbewusst nach Gemeinsamem und zweifelohne schon nach einer Basis für Künftiges. Fehler ihrer Eltern wollten sie beide nicht wiederholen. Von ihrem Berufsleben wollten sie sich nicht gleichermassen vereinnahmen lassen. Nach Kindern, nach einer Familie sehnten sie sich beide. Beruflich gab es einige Gemeinsamkeiten. Er noch in den letzten Semestern seines Studiums, sie bereits auf eigenen Füssen stehend. Ob ihrer mutigen Laborexperimente mit ihren Schülern sträubten sich ihm die Haare. Aber, noch kaum sechzehn jährig hatte er selbst die Holzscheite im Kamin seines Grossvaters chemisch zur Zündung gebracht. Ein Paukenschlag mit Blitz und Donner. Beissender Rauch war über die versammelte Familie hereingebrochen. Und noch Jahre später behauptete sein Grossvater scherzend nicht nur jegliches Eisen in seiner guten Stube, sondern auch sämtliches Holz würde seit diesem Attentat vor sich hin rosten. Ihre Hobbies und Interessen konnten unterschiedlicher nicht sein. Doch bei aller Verschiedenheit ergaben sich dennoch erstaunliche Übereinstimmungen.

Er mochte sie. Er mochte ihre Unternehmungslust, ihre Offenheit, ihren Humor, ihre Lebenserfahrung. Sie konnte gleichermassen spannend erzählen wie aufmerksam zuhören und… Sie schien ihn nicht minder zu mögen.

Erst die untergehende Sonne und unstillbarer Hunger liessen sich schliesslich aufbrechen. Aus dem geplanten Nachmitttag wurde nun auch ein Abend. Nach Einkäufen für ihr Nachtessen fuhr sie mit ihm zu ihrer Wohnung. Ein einzelnes Zimmer nur, mit separater Küche allerdings. Ihr grosses gemütliches Zimmer war Wohn- Schlaf- und Arbeitsraum, Partytreffpunkt, Musikzimmer, Kuschelecke und Konzertsaal zugleich. Auf ihrem Büchergestell stapelten sich Schallplatten und Mitschnitte der vielen Konzerte, an denen sie mitgewirkt hatte. Über der Wiese vor ihrem Balkon kreisten Möwen.

Was sie zubereitet hatte, schmeckte köstlich; über seine etwas linkischen Kochkünste bei der Zubereitung flambierter Bananen lachten sie später noch lange. Das Requiem von Brahms, sie stand eben in der Vorbereitung dieses Konzerts. Beim Musikhören vergassen sie die Zeit. Nur mit halsbrecherischer Autofahrt zum übernächsten Bahnhof erreichten sie noch seinen letzten Zug – als sie sich zum Abschied umarmten, da wussten sie beide, dass aus ungeplanten Abenden wohl bald auch ungeplante Nächte, Wochenenden und schliesslich eine gemeinsame Zukunft werden würde.


 
*pcf 2012

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