Sonntag, 12. Februar 2012

Griechische Inseln (Teil 1)


 
Er bog von der viel befahrenen Hauptstrasse in die schmale Privatstrasse ein. Gesäumt von weit ausladenden Bäumen führte sie zum alten, schlossähnlichen Anwesen, auch dieses umrahmt von mächtigen Bäumen. Kurz vor dem Hotel schliesslich ging links die Zufahrt zum Parkplatz ab. Ein Freitagabend in der zweiten Hälfte Juni, da hätte er mehr Gäste, mehr parkierende Autos erwartet. Er zog den Schlüssel ab, ging zum Kofferraum um sein Weniges an Gepäck auszuladen. Genau hatte er nicht gewusst, wann er losfahren würde.

Dass ihr Wagen noch nicht da war, fiel ihm sofort auf, störte ihn aber nicht, ja erleichterte ihn sogar. Das Zimmer beziehen, nach der mühsamen Herfahrt noch ein bisschen frische Luft schnappen, dies behagte ihm; darauf hatte er sich geradezu gefreut. Am Telefon hatte sie etwas von einer Sportveranstaltung ihres Sohnes gesagt.  Auf das gemeinsame Nachtessen jedoch, da freue sie sich und würde das auch spielend schaffen. Sie hatte nahezu gleich weit zu fahren, kam aus der Gegenrichtung, kannte Strecke und Tücken des Feierabendverkehrs bestens.

Ein Hotelangestellter nahm ihm die Tasche ab und führte ihn zur Rezeption. Man kannte ihn. Er liebte dieses Traditionshaus, den charmanten, zurückhaltenden Luxus. Wie oft war er schon hier gewesen, mit Kunden, mit seiner Frau, gelegentlich, wenn es sich auf der Fahrt in den Urlaub ergab, auch mit Sohn und Tochter. Dreimal auch mit Claudine. Getrennte Zimmer, anders ging es nicht. Ihre ungestüme Begrüssung in dem einen, die Nacht im andern, so hatten sie es meist gehalten. Den Betten hatte man am nächsten Morgen jeweils ihre durchtriebene Strategie nicht ansehen können. Und dass sich zu später Stunde noch ein Zimmermädchen in den Schlaftrakt verirrt hätte, war wenig wahrscheinlich… Und wenn auch. Ein exklusives Hotel, abgelegen, dennoch verkehrstechnisch bestens erschlossen, der Parkplatz zudem von der Strasse nicht einsehbar, absolute Diskretion Ehrensache – das Hotelpersonal dürfte Einiges gewöhnt sein.

Spätestens um acht Uhr wollte sie hier sein, hatte sie versichert. Er bestellte ein Glas Champagner; es passte zu seiner gehobenen Laune. Auf der halbseitig gedeckten Terrasse hatte er einen Tisch mit Blick auf den See reservieren lassen. Er würde sie hier erwarten. Verliebt bis über beide Ohren, auch nach den vielen Jahren noch, zählte er nach wie vor die Tage bis zu ihren jeweiligen Wiedersehen. Sie verlieh seinen Fantasien Flügel und gemeinsam mit ihr war er immer für eine Überraschung gut. Mal liessen sie das Nachtessen gänzlich ausfallen, mal bestellten sie erst um Mitternacht, was ihnen die Küche noch zu bieten hatte. Eingespielte Abläufe gab es bei ihm zu Hause zur Genüge. Zusammen mit Claudine kam niemals Langeweile auf. Sieben Jahre kannten sie sich jetzt bereits. Obwohl, dies war eigentlich nicht korrekt. Eine Jugendbekanntschaft. Und dann ein jahrzehntelanger Unterbruch zwischen ihrer Vergangenheit und dem Heute.

Sie war nur in ihren Schulferien zugegen, wohnte dann jeweils bei ihrer Tante im Nachbarhaus. Wie hatte er sich immer auf diese kostbaren gemeinsamen Wochen gefreut. Ihre Korrespondenz in den Monaten dazwischen war linkisch gewesen, ihrer beider Alter entsprechend, aber lebhaft, manchmal urkomisch und voll versteckter Anspielungen, welche für unbefugte Leser kaum zu entschlüsseln gewesen wären. War die Freundin aber dann erst einmal wieder da, war für Aufregung und Betrieb gesorgt. Sie brachte bald schon markanten Stil und frühreife Lebenserfahrung mit ins unschuldige Dorfleben. Sie verstrickte ihn in heissblütige Rollenspiele, wollte nächtelang zur Musik ihres mächtigen, im Dorf einmaligen Grammofons tanzen, begleitete ihn auf ihrer Violine zum Klavierspiel, improvisierte nach Herzenslaune und war voll exotischen Temperaments ihres aus dem Nahen Osten stammenden Vaters. Ihre Abstammung konnte sie nicht verleugnen. Ihre pechschwarzen Haare, ihre grossen dunklen, allwissenden Augen, ausgeprägte, hohen Wangenknochen, ihre schlanke Statur, ihre bereits markante Weiblichkeit! Er liebte alles an ihr, war unsterblich verliebt in sie, schon damals und noch ehe er überhaupt ahnte, was Liebe wirklich war. Vierzig Jahre später, nachdem sie sich, zufällig wie er seiner Frau mehrfach versichert hatte, anlässlich einer  seiner Geschäftsreisen wieder getroffen hatten, hatte sie für ihn noch immer kaum etwas von ihrer einstigen Anziehungskraft und ihrem Charme eingebüsst. Sie war älter, reifer geworden, doch ihre geheimnisvolle Aura zog ihn sogleich wieder in ihren Bann. Zugegebenermassen, und seiner Frau konnte er da nicht widersprechen, sie war ein verrücktes Huhn, gelinde gesagt manisch, immer in Bewegung, unternehmungslustig, kreativ, einnehmend und mitreissend, ledig jeglicher bürgerlicher Massstäbe, ebenfalls voller romantischer Phantasien. Claudine hatte er niemals vergessen können, trotz Ehefrau, Ehe, und Familie. Glanzlose, lange, verlorene Ehejahre konnten nicht mithalten mit sehnsüchtiger Erinnerung und verbotener Hoffnung und Zuversicht.

Er hatte sie, siebzehnjährig, aus den Augen verloren, als sie zur weiteren Ausbildung ihrem Vater nach Amerika gefolgt war. Ihre Briefe hatten rasch an Dynamik verloren. Sie lebte im Augenblick. Vergangenes war für sie vergangen, Künftiges zu weit weg, als dass es lohnte sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Und gerade deshalb mochte er sie, hatte sich immer verzehrt nach ihr. Wie ähnlich war sie ihm doch! Er hatte wohl nüchterne Naturwissenschaften studieren müssen, um später einen Brotberuf zu ergreifen, von dieser Forderung war seine Mutter keinen Jota abgewichen. Ein beschwerlicher Weg, der ihn letztlich aber immerhin in das Direktorium eines aufstrebenden Unternehmens geführt hatte. Eine künstlerische Laufbahn war immer sein Traum gewesen und dies leider auch geblieben. Musische Begabungen vielfältiger Art waren ihm in die Wiege gelegt worden. Er war begabter Zeichner und Maler, war hochmusikalisch; jedes Instrument in seiner Reichweite wusste er mitreissend zu spielen. Was er schrieb, ob Romane, Geschichten aber genauso auch Fachberichte, alles hatte Hand und Fuss und vermochte durch Eloquenz und Geist die unterschiedlichsten Lesergruppen in seinen Bann zu ziehen und zu überzeugen.

Claudines überraschenden Abschied hatte er damals nicht verstanden und sich damit kaum abfinden können. Sie schien es eher von der leichten Seite genommen zu haben. Dessen wurde er sich allerdings erst mit den Jahren bewusst. Schliesslich, so erschien es ihm bisweilen, war er für sie immer nur willkommene Ferienfreundschaft gewesen. Die Mädchen damals in seinem ländlichen Umfeld konnten es mit Claudine nicht aufnehmen, waren allesamt farblos, nichtssagend.



Mitten in der Nacht stand er auf. An Schlafen war ohnehin nicht zu denken gewesen. Er ging zur Rezeption, erkundigte sich nach ihr, zum dritten Mal jetzt, fragte nochmals ungeduldig, ob denn keine Nachricht für ihn da sei. War sie nicht. Nun begann er sich ernsthafte Sorgen zu machen um Claudine. Hatte es einen Unfall gegeben? Ihr Fahrstil war genauso unberechenbar wie ihr ganzes Wesen, wie ihre Sprunghaftigkeit, derentwegen er sie so liebte. Oder liess sie ihn feige im Stich, weil sie nach so langer gemeinsamer Zeit, urplötzlich an ihrer letztlich unmöglichen Beziehung zu zweifeln begonnen hatte? Durchschaute sie ihn? Wie oft hatten sie von einem Häuschen  versteckt in einem Pinienhain irgendwo auf einer Insel im griechischen Archipel, fernab aller Verpflichtungen und losgesagt von ihren beiden Familien, geschwärmt! Ein frivoler Traum; zu viel hielt ihn hier zurück. Doch wie hätte er ihr dies weismachen sollen; zu sehr hatte sie ihn in den letzten Monaten bedrängt

In den frühen Morgenstunden des Samstags hatte er die Hoffnung auf Claudines Kommen endgültig aufgegeben. Sie hatte zweifellos keine Möglichkeit gesehen, ihn zu benachrichtigen. Niemals hätte sie ihn nur einfach so versetzt und wären ihre Gründe noch so schwerwiegend gewesen. Sie liebte ihn, auch wenn sie sich nur alle zwei bis drei Wochen sahen. Und dies manchmal zudem noch unter fragwürdigen Umständen. Doch hatten sie immer Wege, Erklärungen und Entschuldigungen ihren beiden Ehepartnern gegenüber gefunden. Seine geschäftlichen Verpflichtungen liessen ihm einigen Spielraum. Zweimal im Jahr fuhr er zudem mit seinen Freunden für eine Woche zum Wandern und Kochen. Er würde später zu seinen Freunden stossen oder sich früher von ihnen verabschieden. So liessen sich jeweils längere Treffen vereinbaren. Und seine Freunde würden ohne Zweifel weiterhin dicht halten, hatten es bisher immer getan!.

Was war wirklich geschehen? Er musste Gewissheit haben. Kürzlich hatte er von der Vision gelesen, dass in zehn bis zwanzig Jahren der Markt mobile Telefone bereitstellen und dazu die ganze Welt vernetzen würde. Doch bis dahin ging es ja wohl noch eine Weile. Er fuhr in den nahen Ort, suchte eine Telefonkabine und hatte sogleich ihren Ehemann am andern Ende der Leitung. Jemand hatte ihm einmal erklärt, wie man bei der Telefongesellschaft unbekannte Anrufer oder zum mindestens die Herkunft der Anrufe identifizieren lassen konnte. Nach angemessener Pause, in der nächsten Telefonkabine im Nachbarort legte er den Hörer ebenso unverrichteter Dinge wieder in die Gabel, denn zu erkennen durfte er sich keinesfalls geben. Ihr Ehemann drohte ihr inzwischen unverhohlen mit massiven Konsequenzen, falls sie die Affäre nicht auf der Stelle beenden würde. Ihr fiel das Vertuschen und Verwischen verdächtiger Spuren wesentlich schwieriger als ihm. Mehr als einmal war sie mit handfesten Beweisen konfrontiert worden. Damals, war ihr beider Versuch ihre Bekanntschaft auf unschuldige Art und Weise sozusagen öffentlich zu machen haushoch misslungen. Zu einem seiner Geburtstage hatte er Claudine mit Mann und Sohn zu sich nach Hause eingeladen und sie als seine zufällig wieder gefundene Jugendbekanntschaft ausgegeben. Was sie schliesslich auch war. Doch so unschuldig sie beide sich auch gaben. Dass mehr hinter der Jugendfreundschaft stecken musste, war zweifellos nicht verborgen geblieben.

Kein Zimmer für sie reserviert! Dies gab man ihm an der Rezeption unmissverständlich zu verstehen. Sie beide wollten keinen unnötigen Verdacht aufkommen lassen und hatten immer getrennt ihre Zimmer reservieren lassen. Was hatte Claudine diesmal davon abgehalten?

Nach Hause konnte er nicht, noch nicht. Erst am Sonntagabend würde seine Frau ihn von seinem Wanderurlaub zurück erwarten. So sass er hier regelrecht fest. Es blieb ihm nichts anderes übrig als in diesem Hotel auszuharren. Mit Zeitungslesen und Wandern vertat er sich die nutzlose Warterei. Nur für eine halbe, höchstens eine Stunde wagte er es jeweils das Hotel für einen nervösen Streifzug durch die Umgebung zu verlassen. Denn dass Claudine doch noch kommen könnte, wollte und konnte er nicht ausschliessen. Die Stunden schlichen dahin, unerträglich langsam.

Ihm graute vor dem obligaten Anruf bei seiner Frau von heute Abend. Doch sie erwartete dieses Lebenszeichen von ihm. Darauf hatte sie bestanden, auch wenn sie sich bereits morgen wieder sehen würden. Und er ängstigte sich vor der Heimkehr, und dies von Mal zu Mal mehr. Wie sollte er seiner Frau unter die Augen treten. Was ahnte sie?

Claudine, so sagte sie ihm später am Telefon, hatte sich tatsächlich mit der Wahl des Hotels vertan und war nur wenige Autominuten entfernt im andern Hotel auf der gegenüberliegenden Seeseite festgesessen, hatte ebenfalls nicht Wege und Mittel gefunden ihn zu erreichen

Er konnte ihr die ihm unverständliche Verwechslung ihres Treffpunkts und mehr noch ihre Uneinsichtigkeit nicht verzeihen. Ihrer Zerstreutheit, ihrer Unbeständigkeit, ihrer Verspieltheit, die ihm bisher so viel bedeutet hatten, schrieb er dies unverzeihliche Missverständnis ihrerseits zu und ärgerte sich über sie.

Das Ende ihrer Liaison kam über Nacht, zwei Tage nach seiner Heimkehr. Es war peinlich, schäbig, brutal und gleichermassen billig, komisch, aber auch bitter und unendlich tragisch. Ein Donnerschlag mit einem entsetzlichen Nachhall. Und diesmal war er Auslöser und Ursache zugleich gewesen! Er, welcher es nie über sich gebracht hatte je nein zu sagen, war nun unwillentlich zum Anlass für den endgültigen Bruch geworden! Affären zu beginnen, das konnte er und er hatte es in den langen Jahren ihrer Ehe mehrmals überaus erfolgreich getan. Affären zu  beenden, das brachte er nicht übers Herz. Die verräterische Quittung für zwei Übernachtungen hätte jedem billigen Schundroman vom Kiosk um die nächste Ecke oder jeder seichten Seifenoper entstammen können. Seine Erklärungen gingen ins Leere! Sein Anruf, als er ihr in allen Einzelheiten von den Wanderungen und den Plänen mit seinen Freunden für Samstag erzählt hatte. Das passte nicht! Billig und schäbig, nichts als billig! Es gab nichts zu beschönigen.

Fortan lebten sie voller Misstrauen an einander vorbei. An weitere Wanderungen oder Kochveranstaltungen mit seinen ihm so unentbehrlichen gewordenen Freunden war nicht mehr zu denken. Diese wandten sich mehrheitlich von ihm, von ihnen ab, waren sie das hinterhältige Versteckspiel doch längst leid gewesen und fühlten sich nun gar noch mitschuldig an der ganzen Tragödie.

Für die wenigen Jahre, welche ihm noch beschieden sein sollten, blieb ihm nichts als Trauer und Verzweiflung. Sein letztes Abenteuer war mehr als ein blosses Abenteuer gewesen und das Leben ohne Claudine erwies sich als trostlos, wertlos, aussichtslos.


*pcf 2012

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