Er bog von der viel
befahrenen Hauptstrasse in die schmale Privatstrasse ein. Gesäumt von weit
ausladenden Bäumen führte sie zum alten, schlossähnlichen Anwesen, auch dieses
umrahmt von mächtigen Bäumen. Kurz vor dem Hotel schliesslich ging links die
Zufahrt zum Parkplatz ab. Ein Freitagabend in der zweiten Hälfte Juni, da hätte
er mehr Gäste, mehr parkierende Autos erwartet. Er zog den Schlüssel ab, ging
zum Kofferraum um sein Weniges an Gepäck auszuladen. Genau hatte er nicht
gewusst, wann er losfahren würde.
Dass ihr Wagen noch nicht da
war, fiel ihm sofort auf, störte ihn aber nicht, ja erleichterte ihn sogar. Das
Zimmer beziehen, nach der mühsamen Herfahrt noch ein bisschen frische Luft
schnappen, dies behagte ihm; darauf hatte er sich geradezu gefreut. Am Telefon
hatte sie etwas von einer Sportveranstaltung ihres Sohnes gesagt. Auf das gemeinsame Nachtessen jedoch, da
freue sie sich und würde das auch spielend schaffen. Sie hatte nahezu gleich
weit zu fahren, kam aus der Gegenrichtung, kannte Strecke und Tücken des
Feierabendverkehrs bestens.
Ein Hotelangestellter nahm
ihm die Tasche ab und führte ihn zur Rezeption. Man kannte ihn. Er liebte
dieses Traditionshaus, den charmanten, zurückhaltenden Luxus. Wie oft war er
schon hier gewesen, mit Kunden, mit seiner Frau, gelegentlich, wenn es sich auf
der Fahrt in den Urlaub ergab, auch mit Sohn und Tochter. Dreimal auch mit
Claudine. Getrennte Zimmer, anders ging es nicht. Ihre ungestüme Begrüssung in
dem einen, die Nacht im andern, so hatten sie es meist gehalten. Den Betten
hatte man am nächsten Morgen jeweils ihre durchtriebene Strategie nicht ansehen
können. Und dass sich zu später Stunde noch ein Zimmermädchen in den
Schlaftrakt verirrt hätte, war wenig wahrscheinlich… Und wenn auch. Ein
exklusives Hotel, abgelegen, dennoch verkehrstechnisch bestens erschlossen, der
Parkplatz zudem von der Strasse nicht einsehbar, absolute Diskretion Ehrensache
– das Hotelpersonal dürfte Einiges gewöhnt sein.
Spätestens um acht Uhr wollte
sie hier sein, hatte sie versichert. Er bestellte ein Glas Champagner; es
passte zu seiner gehobenen Laune. Auf der halbseitig gedeckten Terrasse hatte
er einen Tisch mit Blick auf den See reservieren lassen. Er würde sie hier
erwarten. Verliebt bis über beide Ohren, auch nach den vielen Jahren noch,
zählte er nach wie vor die Tage bis zu ihren jeweiligen Wiedersehen. Sie
verlieh seinen Fantasien Flügel und gemeinsam mit ihr war er immer für eine
Überraschung gut. Mal liessen sie das Nachtessen gänzlich ausfallen, mal
bestellten sie erst um Mitternacht, was ihnen die Küche noch zu bieten hatte.
Eingespielte Abläufe gab es bei ihm zu Hause zur Genüge. Zusammen mit Claudine
kam niemals Langeweile auf. Sieben Jahre kannten sie sich jetzt bereits.
Obwohl, dies war eigentlich nicht korrekt. Eine Jugendbekanntschaft. Und dann
ein jahrzehntelanger Unterbruch zwischen ihrer Vergangenheit und dem Heute.
Sie war nur in ihren
Schulferien zugegen, wohnte dann jeweils bei ihrer Tante im Nachbarhaus. Wie
hatte er sich immer auf diese kostbaren gemeinsamen Wochen gefreut. Ihre
Korrespondenz in den Monaten dazwischen war linkisch gewesen, ihrer beider
Alter entsprechend, aber lebhaft, manchmal urkomisch und voll versteckter
Anspielungen, welche für unbefugte Leser kaum zu entschlüsseln gewesen wären. War
die Freundin aber dann erst einmal wieder da, war für Aufregung und Betrieb
gesorgt. Sie brachte bald schon markanten Stil und frühreife Lebenserfahrung
mit ins unschuldige Dorfleben. Sie verstrickte ihn in heissblütige
Rollenspiele, wollte nächtelang zur Musik ihres mächtigen, im Dorf einmaligen
Grammofons tanzen, begleitete ihn auf ihrer Violine zum Klavierspiel,
improvisierte nach Herzenslaune und war voll exotischen Temperaments ihres aus
dem Nahen Osten stammenden Vaters. Ihre Abstammung konnte sie nicht verleugnen.
Ihre pechschwarzen Haare, ihre grossen dunklen, allwissenden Augen,
ausgeprägte, hohen Wangenknochen, ihre schlanke Statur, ihre bereits markante
Weiblichkeit! Er liebte alles an ihr, war unsterblich verliebt in sie, schon
damals und noch ehe er überhaupt ahnte, was Liebe wirklich war. Vierzig Jahre
später, nachdem sie sich, zufällig wie er seiner Frau mehrfach versichert
hatte, anlässlich einer seiner
Geschäftsreisen wieder getroffen hatten, hatte sie für ihn noch immer kaum
etwas von ihrer einstigen Anziehungskraft und ihrem Charme eingebüsst. Sie war
älter, reifer geworden, doch ihre geheimnisvolle Aura zog ihn sogleich wieder
in ihren Bann. Zugegebenermassen, und seiner Frau konnte er da nicht
widersprechen, sie war ein verrücktes Huhn, gelinde gesagt manisch, immer in
Bewegung, unternehmungslustig, kreativ, einnehmend und mitreissend, ledig
jeglicher bürgerlicher Massstäbe, ebenfalls voller romantischer Phantasien.
Claudine hatte er niemals vergessen können, trotz Ehefrau, Ehe, und Familie.
Glanzlose, lange, verlorene Ehejahre konnten nicht mithalten mit sehnsüchtiger
Erinnerung und verbotener Hoffnung und Zuversicht.
Er hatte sie, siebzehnjährig,
aus den Augen verloren, als sie zur weiteren Ausbildung ihrem Vater nach
Amerika gefolgt war. Ihre Briefe hatten rasch an Dynamik verloren. Sie lebte im
Augenblick. Vergangenes war für sie vergangen, Künftiges zu weit weg, als dass
es lohnte sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Und gerade deshalb mochte er
sie, hatte sich immer verzehrt nach ihr. Wie ähnlich war sie ihm doch! Er hatte
wohl nüchterne Naturwissenschaften studieren müssen, um später einen Brotberuf
zu ergreifen, von dieser Forderung war seine Mutter keinen Jota abgewichen. Ein
beschwerlicher Weg, der ihn letztlich aber immerhin in das Direktorium eines
aufstrebenden Unternehmens geführt hatte. Eine künstlerische Laufbahn war immer
sein Traum gewesen und dies leider auch geblieben. Musische Begabungen
vielfältiger Art waren ihm in die Wiege gelegt worden. Er war begabter Zeichner
und Maler, war hochmusikalisch; jedes Instrument in seiner Reichweite wusste er
mitreissend zu spielen. Was er schrieb, ob Romane, Geschichten aber genauso
auch Fachberichte, alles hatte Hand und Fuss und vermochte durch Eloquenz und
Geist die unterschiedlichsten Lesergruppen in seinen Bann zu ziehen und zu
überzeugen.
Claudines überraschenden
Abschied hatte er damals nicht verstanden und sich damit kaum abfinden können.
Sie schien es eher von der leichten Seite genommen zu haben. Dessen wurde er
sich allerdings erst mit den Jahren bewusst. Schliesslich, so erschien es ihm
bisweilen, war er für sie immer nur willkommene Ferienfreundschaft gewesen. Die
Mädchen damals in seinem ländlichen Umfeld konnten es mit Claudine nicht
aufnehmen, waren allesamt farblos, nichtssagend.
Mitten in der Nacht stand er
auf. An Schlafen war ohnehin nicht zu denken gewesen. Er ging zur Rezeption,
erkundigte sich nach ihr, zum dritten Mal jetzt, fragte nochmals ungeduldig, ob
denn keine Nachricht für ihn da sei. War sie nicht. Nun begann er sich
ernsthafte Sorgen zu machen um Claudine. Hatte es einen Unfall gegeben? Ihr
Fahrstil war genauso unberechenbar wie ihr ganzes Wesen, wie ihre
Sprunghaftigkeit, derentwegen er sie so liebte. Oder liess sie ihn feige im
Stich, weil sie nach so langer gemeinsamer Zeit, urplötzlich an ihrer letztlich
unmöglichen Beziehung zu zweifeln begonnen hatte? Durchschaute sie ihn? Wie oft
hatten sie von einem Häuschen versteckt
in einem Pinienhain irgendwo auf einer Insel im griechischen Archipel, fernab
aller Verpflichtungen und losgesagt von ihren beiden Familien, geschwärmt! Ein
frivoler Traum; zu viel hielt ihn hier zurück. Doch wie hätte er ihr dies
weismachen sollen; zu sehr hatte sie ihn in den letzten Monaten bedrängt
In den frühen Morgenstunden
des Samstags hatte er die Hoffnung auf Claudines Kommen endgültig aufgegeben.
Sie hatte zweifellos keine Möglichkeit gesehen, ihn zu benachrichtigen. Niemals
hätte sie ihn nur einfach so versetzt und wären ihre Gründe noch so
schwerwiegend gewesen. Sie liebte ihn, auch wenn sie sich nur alle zwei bis
drei Wochen sahen. Und dies manchmal zudem noch unter fragwürdigen Umständen.
Doch hatten sie immer Wege, Erklärungen und Entschuldigungen ihren beiden
Ehepartnern gegenüber gefunden. Seine geschäftlichen Verpflichtungen liessen
ihm einigen Spielraum. Zweimal im Jahr fuhr er zudem mit seinen Freunden für
eine Woche zum Wandern und Kochen. Er würde später zu seinen Freunden stossen
oder sich früher von ihnen verabschieden. So liessen sich jeweils längere
Treffen vereinbaren. Und seine Freunde würden ohne Zweifel weiterhin dicht
halten, hatten es bisher immer getan!.
Was war wirklich geschehen?
Er musste Gewissheit haben. Kürzlich hatte er von der Vision gelesen, dass in
zehn bis zwanzig Jahren der Markt mobile Telefone bereitstellen und dazu die
ganze Welt vernetzen würde. Doch bis dahin ging es ja wohl noch eine Weile. Er
fuhr in den nahen Ort, suchte eine Telefonkabine und hatte sogleich ihren
Ehemann am andern Ende der Leitung. Jemand hatte ihm einmal erklärt, wie man
bei der Telefongesellschaft unbekannte Anrufer oder zum mindestens die Herkunft
der Anrufe identifizieren lassen konnte. Nach angemessener Pause, in der
nächsten Telefonkabine im Nachbarort legte er den Hörer ebenso unverrichteter
Dinge wieder in die Gabel, denn zu erkennen durfte er sich keinesfalls geben.
Ihr Ehemann drohte ihr inzwischen unverhohlen mit massiven Konsequenzen, falls
sie die Affäre nicht auf der Stelle beenden würde. Ihr fiel das Vertuschen und
Verwischen verdächtiger Spuren wesentlich schwieriger als ihm. Mehr als einmal
war sie mit handfesten Beweisen konfrontiert worden. Damals, war ihr beider
Versuch ihre Bekanntschaft auf unschuldige Art und Weise sozusagen öffentlich
zu machen haushoch misslungen. Zu einem seiner Geburtstage hatte er Claudine
mit Mann und Sohn zu sich nach Hause eingeladen und sie als seine zufällig
wieder gefundene Jugendbekanntschaft ausgegeben. Was sie schliesslich auch war.
Doch so unschuldig sie beide sich auch gaben. Dass mehr hinter der
Jugendfreundschaft stecken musste, war zweifellos nicht verborgen geblieben.
Kein Zimmer für sie
reserviert! Dies gab man ihm an der Rezeption unmissverständlich zu verstehen.
Sie beide wollten keinen unnötigen Verdacht aufkommen lassen und hatten immer
getrennt ihre Zimmer reservieren lassen. Was hatte Claudine diesmal davon
abgehalten?
Nach Hause konnte er nicht,
noch nicht. Erst am Sonntagabend würde seine Frau ihn von seinem Wanderurlaub
zurück erwarten. So sass er hier regelrecht fest. Es blieb ihm nichts anderes
übrig als in diesem Hotel auszuharren. Mit Zeitungslesen und Wandern vertat er
sich die nutzlose Warterei. Nur für eine halbe, höchstens eine Stunde wagte er
es jeweils das Hotel für einen nervösen Streifzug durch die Umgebung zu
verlassen. Denn dass Claudine doch noch kommen könnte, wollte und konnte er
nicht ausschliessen. Die Stunden schlichen dahin, unerträglich langsam.
Ihm graute vor dem obligaten
Anruf bei seiner Frau von heute Abend. Doch sie erwartete dieses Lebenszeichen
von ihm. Darauf hatte sie bestanden, auch wenn sie sich bereits morgen wieder
sehen würden. Und er ängstigte sich vor der Heimkehr, und dies von Mal zu Mal
mehr. Wie sollte er seiner Frau unter die Augen treten. Was ahnte sie?
Claudine, so sagte sie ihm
später am Telefon, hatte sich tatsächlich mit der Wahl des Hotels vertan und
war nur wenige Autominuten entfernt im andern Hotel auf der gegenüberliegenden
Seeseite festgesessen, hatte ebenfalls nicht Wege und Mittel gefunden ihn zu
erreichen
Er konnte ihr die ihm
unverständliche Verwechslung ihres Treffpunkts und mehr noch ihre
Uneinsichtigkeit nicht verzeihen. Ihrer Zerstreutheit, ihrer Unbeständigkeit,
ihrer Verspieltheit, die ihm bisher so viel bedeutet hatten, schrieb er dies
unverzeihliche Missverständnis ihrerseits zu und ärgerte sich über sie.
Das Ende ihrer Liaison kam
über Nacht, zwei Tage nach seiner Heimkehr. Es war peinlich, schäbig, brutal
und gleichermassen billig, komisch, aber auch bitter und unendlich tragisch.
Ein Donnerschlag mit einem entsetzlichen Nachhall. Und diesmal war er Auslöser
und Ursache zugleich gewesen! Er, welcher es nie über sich gebracht hatte je
nein zu sagen, war nun unwillentlich zum Anlass für den endgültigen Bruch
geworden! Affären zu beginnen, das konnte er und er hatte es in den langen
Jahren ihrer Ehe mehrmals überaus erfolgreich getan. Affären zu beenden, das brachte er nicht übers Herz. Die
verräterische Quittung für zwei Übernachtungen hätte jedem billigen Schundroman
vom Kiosk um die nächste Ecke oder jeder seichten Seifenoper entstammen können.
Seine Erklärungen gingen ins Leere! Sein Anruf, als er ihr in allen
Einzelheiten von den Wanderungen und den Plänen mit seinen Freunden für Samstag
erzählt hatte. Das passte nicht! Billig und schäbig, nichts als billig! Es gab
nichts zu beschönigen.
Fortan lebten sie voller
Misstrauen an einander vorbei. An weitere Wanderungen oder Kochveranstaltungen
mit seinen ihm so unentbehrlichen gewordenen Freunden war nicht mehr zu denken.
Diese wandten sich mehrheitlich von ihm, von ihnen ab, waren sie das hinterhältige
Versteckspiel doch längst leid gewesen und fühlten sich nun gar noch
mitschuldig an der ganzen Tragödie.
Für die wenigen Jahre, welche
ihm noch beschieden sein sollten, blieb ihm nichts als Trauer und Verzweiflung.
Sein letztes Abenteuer war mehr als ein blosses Abenteuer gewesen und das Leben
ohne Claudine erwies sich als trostlos, wertlos, aussichtslos.
*pcf 2012
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