Samstag, 28. Januar 2012

Der Rote Trierer (2)


Der Rote Trierer (2)

Unablässig prasselte der Regen auf die Markise; sie sei selbstverständlich wetterfest, hatte man ihm versichert. Dann und wann entleerte sich das angesammelte Wasser in einem klatschenden Wassersturz. Gleich nach seiner Rückkehr hatte er sich mit dem ungeöffneten Brief und einem Bier auf den Balkon gesetzt, vorzüglich geschützt in der Einbuchtung des Balkons.

Er hätte die Äste von hier aus beinahe zu greifen vermocht, auch hier oben noch, im zweiten Obergeschoss. So mächtig hatte er einst dagestanden, der Stuttgarter Weinapfelbaum; Roter Trierer nannte man ihn andernorts. Wenn er verbotener Weise hochgeklettert war, damals, hatte sich ihm wohl dieselbe Aussicht geboten wie heute vom umlaufenden Balkon. Der Architekt hatte ihn schliesslich überzeugt, dass auch dieser Baum dem Neubau zu weichen hatte. Und die übrigen Obstbäume waren altersschwach und seit Jahren vernachlässigt gewesen.

Wie schnell doch alles vor sich gegangen war! Ihre Ehe hatte wohl die zahlreichen Stürme überdauert, Schwangerschaften, schlaf- und essunwillige Kleinkinder, Schule später, Pubertäten, so heftig, wie man sie sich kaum vorzustellen wagte, erste Freunde, Schulabschluss und bald darauf Auszug in WG’s an ihren jeweiligen Studienorten. Dennoch war ihre Ehe durch die gemeinsam gemeisterten Widerwärtigkeiten und Herausforderungen nicht gereift. Hatten sie doch kaum je Gelegenheit gefunden für ihre Zweisamkeit. Sein, aber auch ihr beruflicher Werdegang hatten neben der Erziehung immer Oberhand behalten.

Ihre Kinder hatten überflüssig Gewordenes übernommen, soweit ihre räumlichen Gegebenheiten dies zuliessen. Auch Freunde und Bekannte hatten sich nach Lust und Laune umsehen dürfen. Schliesslich hatte das Umzugsunternehmen das Verbliebene in zwei verschiedene Richtungen abtransportiert. Sie waren sich bald einig; da gab es auch für die beiden Rechtsanwälte wenig Aufregendes zu erledigen. Nur ihre Töchter waren fassungslos. Ihm gegenüber jedenfalls verhielten sie sich auch heute, sieben Jahre später, noch immer ausnehmend frostig. Dass Claudia Hals über Kopf wegziehen wollte, in die nahe Stadt, hatte ihn nicht überrascht. Hatte sie dem Landleben doch nie Positives abgewinnen können. Dass ihre beruflichen Möglichkeiten in städtischem Umfeld wesentlich vielversprechender waren, daran hatte auch er keinen Augenblick gezweifelt.

Vier Jahre hatte er sich gegeben an seinem neuen Arbeitsort, mehr nicht. Dies hatte er auch seiner Familie immer wieder klar zu machen versucht. Soweit er sich erinnern vermochte, war auch keiner seiner Vorgänger länger dort beschäftigt gewesen. An der Karrierestrategie des Unternehmens gab es nichts zu rütteln. Wer sich bewährt hatte, musste weiter an einen neuen Unternehmensstandort; wer den Anforderungen nicht genügte wurde irgendwohin in die Zentrale abgeschoben. Familiäre Verpflichtungen zählten nicht. Er hatte all dies gewusst, dennoch überwog schliesslich sein Ehrgeiz. Er hatte auch gewusst, dass nach den vier Jahren eine Rückkehr an seinen ursprünglichen Arbeitsort, in seine und Ihre Heimat nicht zur Debatte gestanden hätte.

Claudias Vorwürfe waren ins Leere gegangen. Glaubhaft hatte er ihr versichern können, dass er von Julias Plänen damals noch nichts gewusst hatte. Sie hatten beide jedoch nahezu zur selben Zeit den Arbeitsort gewechselt. Claudia hatte sich jedoch unwillig all seinen hilflosen Argumenten gegenüber verschlossen und tausend Kilometer waren eine zu grosse Distanz für eine Wochenend- Ehe.  Ihre Zeit war abgelaufen; sie hatten ihre Chance vertan!

Ihre wenigen verbliebenen Angelegenheiten hatten seither die Anwälte stellvertretend übernommen. Nicht einmal Telefonnummer und neue Email- Adresse hatte sie ihm überlassen. Das wenige, was er von Claudia noch wusste, hatte er den spärlichen Nachrichten seiner Töchter entnommen.

Acht Jahre pendelte er nun schon, wenngleich er inzwischen die meisten Wochenenden an seinem Arbeitsort verbrachte. Mit seiner unvermeidlichen Versetzung rechnete er täglich. Den wirtschaftlichen Gegebenheiten hatte er es wohl zu verdanken, dass man ihn noch nicht mit andern Herausforderungen betraut hatte. Zu sehr wurde er vor Ort benötigt. Personalentlassungen folgten auf Neueinstellungen; Teile des Betriebs waren zu schliessen und dann doch wieder zu betreiben. Überall begann es an Ressourcen und Erfahrung zu fehlen. Verunsicherung griff um sich.

Als das Mehrfamilienhaus fertiggestellt war, hatte er die in einer Lagerhalle eingestellten Möbel herbringen lassen und eine der neuen Wohnung bezogen. Julia hatte nicht begreifen wollen, warum er sich von seinem alten Wohnort nicht gänzlich lösen und ganz zu ihr ziehen wollte. Sein Blick schweifte hinüber zu ihrem ehemaligen Wohnhaus. Hell erleuchtete Fenster, gelegentlich Kindergeschrei. Eine junge Familie hatte das Haus übernommen.

Das Wetterleuchten war inzwischen zu einem eigentlichen Gewitter geworden. Ein Blitz schlug unmittelbar in der Nähe ein. Kein Sturm hatte dem Roten Trierer je Ernsthaftes antun können. Dabei wäre er der ideale Blitzableiter gewesen; höher gewachsen als alle Obstbäume in seinem Umfeld. Beinahe hätte er übersehen, dass ihm beim Aufstehen der Brief entglitten war. Absenderlos, auch keine Briefmarke. Wohl persönlich eingeworfen. Erstaunlich, dass er ihm zwischen all der Werbung überhaupt aufgefallen war. Sämtliche Post hatte er seit Jahren umleiten lassen. Zu spärlich seine Wochenenden in der Heimat.

Wie lange sie wohl schon wieder hier wohnte? Warum sie der Stadt wieder den Rücken gekehrt hatte? Ausgerechnet sie? Was hatten ihm seine Töchter verschwiegen? Auf diese und viele weitere drängende Fragen ging sie in ihrem Brief nicht ein.

Ob er sich noch einmal versetzen lassen würde? Brauchte er neue berufliche Herausforderungen noch? Er war sich da nicht mehr ganz so sicher. Zuviel hatte er aufgeben müssen. Er war nun in einem Alter, wo er sich den wohlverdienten, wenn auch vorzeitigen Ruhestand leisten konnte.


*pcf 2011

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