Samstag, 28. Januar 2012

Auf ein Bier


Auf ein Bier

„Man sieht sich! Und wenn Dir mal die Decke auf den Kopf fallen sollte, Du weisst, wo Du uns findest!“ Sie wird ihm auf den Kopf fallen. Und zwar heute Abend schon! Daran zweifelte er keinen Augenblick. Doch das schale Angebot konnte ihn nicht darüber hinwegtrösten, dass nun noch ein weiterer Lebensabschnitt zu Ende gegangen war. Endgültig. Das mit der „Decke“, so hatte er doch jeweils selbst Kollegen vor ihrem Abgang in den Ruhestand getröstet und hatte darüber hinaus die hilflosen Versuche einiger Kollegen mit ansehen müssen. Ihre Besuche auf der Abteilung. Hilflos wirklich, alles sinnlos! Das Rad hatte sich weitergedreht, nach wenigen Wochen schon. Neue Sorgen. Neue Probleme, andere Visionen, zwar unerfüllbar meist, welchen man nachzueifern hatte. Auch die Zusage, man werde bei kritischen Situationen gerne seinen Rat einholen, nichts als leere Versprechungen. Hatte er denn ehemalige Mitarbeitende oder gar seine Vorgänger noch je um Rat gefragt. Vielleicht das ein Grund dafür, warum er so viele und vielleicht auch wertvolle Kontakte längst verloren hatte. Doch nicht nur dies, nein da machte er sich nichts mehr vor, für die Pflege von Kontakten ausserhalb ihrer gemütlichen vier Wände, da war Margarete, seine Frau zuständig gewesen. Nur war ihr völlig unerwarteter und viel zu früher Hinschied in ihrem gemeinsamen Lebensplan nicht vorgesehen gewesen.

Ein ausnehmend warmer Oktoberabend, ein letzter wohl. Er hatte sich draussen auf der Treppe zu seiner Haustür niedergelassen.

Nein, so schnell würde man ihn nicht wiedersehen! In gut einem Jahr, vielleicht, anlässlich des jährlichen Pensionären-Treffens, da würde er sich wohl wieder zeigen.

Nein, das war nun mal bitterer Ernst. Jetzt war er ganz auf sich allein gestellt.

Alle waren sie heute Abend gekommen. Nur Hanna nicht. Er bezog ihr Fernbleiben nicht auf sich. Zu sehr litt sie noch immer darunter, dass man so früh schon keine Verwendung mehr für sie gehabt hatte. Auch ihn hatte man das Jahr, sein letztes, nicht mehr vollenden lassen. Ein Aufschub noch, auf den er so sehr gehofft hatte.

Man sieht sich! Viel zu früh hatten sich heute alle bereits aus dem Staub gemacht, waren zu ihrer Familie, zu Ihren Partnerinnen, zu ihren Geliebten geeilt oder sogar nochmals an ihren Arbeitsplatz zurückgekehrt. Einzig Dieter, sein ehrgeiziger und ungestümer Nachfolger, hatte offensichtlich Mitleid mit ihm empfunden, hatte ihn noch nach Hause gefahren. Sein Angebot auf ein Bier in das nahe Restaurant zu gehen, hatte er jedoch dankend abgelehnt. Da gab es nichts mehr zu besprechen.

Jetzt unvermittelt, allein und auf sich gestellt? Und wenn er die Einsamkeit nicht mehr würde ertragen können, die Decke ihm tatsächlich auf den Kopf fallen würde; er hatte vorgesorgt. Schon längst vor Margaretas Tod, als kein Grund mehr für Hoffnung geblieben war! Die Tabletten, übrig geblieben von Margaretas Pillencocktail, hatte er in der Zwischenzeit umgefüllt in ein neutrales Fläschchen. Die Studentin, welche ihm einmal die Woche im Haushalt zur Hand ging, wäre zu neugierig und wohl auch zu klug gewesen um nicht gleich auch die richtigen Schlüsse zu ziehen.

Nie hatte er enge Freundschaften gepflegt. Margarete und er, sie beide waren sich selbst genug gewesen. Neben seiner Arbeit, neben Haus und Garten und ihren gelegentlichen Reisen, da blieb kaum viel Raum und Zeit für Weiteres. Und jetzt Hanna, nett, rücksichtsvoll und unterhaltsam, doch auf sie, da konnte er auch nicht zählen. Verständlich, dass sie ausgerechnet jetzt weggefahren war. Ihre Reisen zwar, in den vergangenen zwei Jahren, die zahlreichen Konzert- und Theaterbesuche. Sie beide hatten dennoch nur das eine gemeinsame Ziel gehabt, wollten beide ihrer brutalen Einsamkeit, der gnadenlosen Wirklichkeit entfliehen. Sie verstanden sich prächtig, gewiss, dennoch hatte sich nie Nähe einstellen können. Peinlich war sie auf Abgrenzung und Distanz bedacht, scheute jede Vertraulichkeit, auch die geringste. Ihre Sorge um getrennte Kassen grenzte beinahe schon ans Lächerliche. Nur einmal, da waren sie sich näher gekommen, damals nach fröhlich durchzechter Nacht auf dieser fernen Insel. Traumlandschaften und ewige Nächte. Doch da war sie unvermittelt von der Bank aufgestanden, seiner scheuen Umarmung entflohen, war einige Schritte gegangen und der ganze zaghafte Zauber war wie weggeblasen gewesen.

Und Hanna, sie würde die kommenden Tage bei ihrem Sohn verbringen; die Feier zu dessen rundem Geburtstag musste vorbereitet werden.

Nachdenklich hatte er sich erhoben, hatte die Türe zu seinem stillen Haus geöffnet. Etwas war ihm gleich im Erdgeschoss aufgefallen, erst jetzt wurde ihm dies bewusst. Wie jeden Abend hatte er das untere, viel kleinere Badzimmer für seine Abendtoilette benutzt. Eigentlich gehörte es zu der Einliegerwohnung, die sie nie als solche genutzt hatten. Hatten sie diese doch beim Bau vorgesehen, in der stillen Hoffnung ihr Sohn würde sie dermal einst beziehen. Da hatten sie aber noch nichts von dem schrecklichen Unfall geahnt, waren unternehmungslustig, voller Zuversicht und guter Dinge gewesen.

Ihr viel grösseres Badezimmer hatte er seit Margaretes Tod nicht mehr benutzt, war ihm zu gross, zu sehr mit Erinnerungen erfüllt gewesen.

Heute Abend war der Deckel der Toilette offen gestanden. Margaretes ewiger und von vorneherein verlorener Kampf mit ihm um diesen nutzlosen Deckel. Erst nach ihrem Tod hatte er sich ihrer Aufforderung gebeugt, stur nun, und hatte sich nie mehr eine Nachlässigkeit zugestanden. Doch heute Morgen, da hatte er wohl zu sehr seinen Gedanken nachgehangen.

Die Pfanne, gefüllt mit feiner Gulaschsuppe hatte er erst entdeckt, als er auf seinem Kopfkissen ihren Zettel mit der Aufforderung gefunden hatte noch in der Küche vorbeizugehen. „Und wenn Dir die Decke auf den Kopf fällt“, hatte sie auf den Zettel hinzu gekritzelt, „mein Handy lasse ich nie mehr in der Bahn liegen. Ruf mich an! Jederzeit!“. Der Küchentisch, sorgfältig gedeckt, sogar einen kleinen Blumenstrauss hatte sie dazugestellt. Natürlich hatte er seinen Hausschlüssel von ihr, wenn sie für ein paar Tage nach seinen Blumen gesehen hatte, nie zurückgefordert. Wäre sich lächerlich, kleinlich vorgekommen. Und doch hatte sie seinen Schlüssel bisher nur benutzt, wenn dies so vereinbart und unumgänglich gewesen war. Ihren eigenen Schlüssel hatte  er ihr jeweils unmittelbar nach ihrer Rückkehr zurückgebracht. Nie hätte sie etwas anderes von ihm erwartet.

Erst Tage und zahlreiche besorgte Anrufe Hannas später und auch erst nach ihrer Rückkehr ist ihm aufgefallen, dass das Fläschchen mit den Tabletten zwar noch an seinem alten Ort im Spiegelschrank, aber inzwischen leer da gestanden hat. Er erinnert sich nicht, ihr je davon erzählt zu haben.



*pcf 2011

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