Samstag, 16. Juni 2018

Short Message Service

Peter Chr. Fries

Short Message Service


Reger Abendverkehr. Gleissendes Spiegeln in den Pfützen. Eben noch hatte es geregnet.

Er trat an den Fussgängerstreifen, blickte nach links, nach rechts, überquerte eilig die Strasse, blieb aber auf der Mittelinsel abrupt stehen, kratzte sich verlegen am rechten Ohrläppchen. Am rechten, denn in seiner Linken trug er die schwarze Ledertasche, die sie ihm einst für sein tägliches Lunchbrot geschenkt hatte; alles andere wäre ihr zu mittelmäßig erschienen. Er, doch stellvertretender Direktor eines althergebrachten Handelshauses

Hastig griff er nach seinem Handy so, als hätte er eben eine SMS erhalten. Dies der Grund, um sich auf der Stelle umzudrehen und jetzt den gleichen Weg zurückzugehen, den er eben gekommen war. Ja, so sollte es aussehen

Was war mit ihm los? Was hatte ihn hierher verschlagen? Er wohnte ja doch nicht mehr bei ihr, hatte dort nichts mehr zu suchen.

Sein Handy hatte sie ausgeliehen. Damals. Hatte dabei die kurze Nachricht entdeckt, welche eigens für ihn aber zweifellos nicht für sie bestimmt gewesen war. Dreiundzwanzig gemeinsame Jahre!





Dokument Nr.:                                                             023

*pcf 2012/2018. 

Freitag, 15. Juni 2018

Angela

Peter Chr. Fries
Angela
Roman

Der nachfolgende Text ist frei erfunden und eventuelle
Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Ereignissen, Personen oder Orten sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Inhalt





Der kurze, scharfe Donnerschlag dröhnte durch das tiefe gewundene Tal… 
Sie hatten es geschafft! Lana und ihre drei Compañeros, unsere Vorhut, welche diese Ladung zünden sollten. Ablenken mussten sie von unserem eigentlichen Ziel; so war der verwegene Einsatz geplant gewesen.
Unmittelbar darauf jedoch eine zweite Explosion, viel gewaltiger, ein entsetzliches Inferno...
Der Boden unter mir erzitterte! Selbst hier, in mindestens einem Kilometer Distanz! Undenkbar, dass das tiefe, dumpfe Rumpeln, sogleich vielfach von den Bergen widerhallend, allein von dieser behelfsmässig zusammengebauten Bombe, einer zudem noch kaum verdämmten, stammen sollte! Ein dröhnendes Desaster, jetzt in chaotisches Krachen und Knallen übergehend. Ausgeschlossen, dass allein das unter der Strasse eingelegte Abflussohr, welches sie zu sprengen und damit gleichzeitig diese wichtige Verbindung fürs erste unpassierbar zu machen hatten, eine solch verheerende Wucht hätte entwickeln können. Dies stand für mich sogleich fest!
Was dort unten im Tal jetzt vor sich ging, konnte nur eine unerwartete Folge ihres Täuschungsmanövers sein. Hatten sie mit ihrem Anschlag gleich noch einen Munitionstransporter erwischt?
Schliesslich war gespenstige Stille eingekehrt. Sogar die Vögel waren verstummt. Eine tödliche Waldesruhe; so wie wir sie schon nach dem ersten Schlag erwartet hatten. 

Unser Spähtrupp gestern! Sie hatten erregt von einem grösseren Trupp von Faschisten im Bereich der Schlucht berichtet, allesamt beneidenswert gut ausgerüstet und einheitlich uniformiert. Zweifellos war dieses Detachement abkommandiert worden um die strategisch wichtige Bahnlinie hier an der engsten Stelle des Tals zu überwachen. Ihnen galt unsere Täuschung. Kopflos würden sie nun nach den Attentätern ausschwärmen. Dies unsere Absicht!
Zehn, vielleicht fünfzehn Minuten noch! So lange sollten wir uns versteckt halten, sorgfältig getarnt und voneinander getrennt durch jeweils etwa zwanzig Meter des hier unten dicht wuchernden Gehölzes. Die Faschisten würden jetzt, von ihrem eigentlichen Einsatz abgelenkt, aus ihren Verstecken hervorbrechen und leichtfertig uns, den verhassten Partisanen, nachsetzen. Nur diese kurze Atempause noch, sie wäre uns, so glaubten wir, nach dem beschwerlichen Anmarsch vergönnt. Dann würde es auch für uns sechs gelten loszuschlagen. Unser erster wirklich bedeutender Kampfeinsatz.

Wir, eine aus Deutschen, Schweizern, Italienern, Engländern und Iren bunt zusammen gewürfelte Truppe, versteckt gehalten in einem aufgelassenen Fort, waren der endlosen Trainings und der zermürbenden Fehlalarme längst müde geworden, harrten ungeduldig darauf als letzte der neu Hinzugekommenen endlich auch aktiv in den endlos sich dahinziehenden Bürgerkrieg mit einbezogen zu werden. So vielfältig unsere Herkunft, so unterschiedlich unsere Motivation zum ungleichen und, wie ich viel später erst erkennen sollte, auch aussichtslosen Kampf in diesem uns allen weitgehend fremden Land. Fantasten, Träumer, wir alle! Eingeschworene Anarchisten, Marxisten, Sozialisten, Atheisten, Antiklerikalisten… Einige zudem zweifellos unter uns, welche in ihrer Heimat mit Gesetz, Regierung, Kultur oder mit sich selbst in unlösbare Konflikte geraten waren. Diffuse Grenzlinien zogen sich durch unseren wild zusammengewürfelten Haufen. Wenige Franzosen, auch einige Russen waren mit dabei. Und Lana, ja, auch sie war Russin, allerdings deutscher Abstammung. Sie war mir gleich bei meiner Ankunft aufgefallen, schien sich aber nicht weiter für die arglosen Neuankömmlinge zu interessieren.
Näher waren wir uns erst bei einem gemeinsamen Spähauftrag gekommen. Katzenhaft verstand sie sich durch jedes noch so unwegsame Macchia durchzuschlängeln, während wir übrigen uns für unseren Weg ausgerechnet alle kaum passierbaren Dornenbüsche auszusuchen schienen. Lana, mich hatten Hals über Kopf ihre Durchsetzungskraft, ihre Geschicklichkeit, ihr Spürsinn, ihre Wendigkeit in den Bann gezogen. Doch mehr als das! Bald aber erlag ich auch ihrer Anmut und ihrer augenfälligen Weiblichkeit. Ihre hellblonden, nahezu weissen, im Nacken verknoteten Haare, ihr fein geschnittenes Gesicht und ihre ausnehmend grossen blauen Augen. Auch unsere wild zusammengestückelten, schäbigen Uniformteile konnten ihrer erotischen Erscheinung nichts anhaben. Stand sie doch in herbem Kontrast zu ihrer sonoren, tiefen Stimme und ihrem forschen Auftreten.
Dass wir schliesslich ein Paar geworden waren, blieb nicht lange unser Geheimnis. Einzeln waren wir eines Morgens zu unserem aufbrausenden Kommandanten zitiert worden. Man sehe Liebschaften ungern, und habe mit solchen Affären nur lauter schlimme Erfahrungen gemacht; er verbitte sich solchen Unfug. Wir nahmen die harsche Verwarnung erst noch auf die leichte Schulter, mussten aber bald feststellen, dass wir nie mehr zu einem gemeinsamen Auftrag eingeteilt wurden. Niemals, ausgenommen heute, hatte man uns miteinander, wenn jetzt auch auf zwei unterschiedlich operierende Gruppen verteilt, abkommandiert und dies wohl auch nur der Not gehorchend. Immer mehr Freiwillige hatten inzwischen zu andern Truppenteilen verlegt werden müssen. Zu allem Übel hatten sich zahlreiche Enttäuschte auch einfach auf und davon gemacht oder waren zur Falange übergelaufen und hatten sich zweifellos eigennützig davon mehr persönliche Vorteile versprochen. Auch uns war trotz unserer visionären Verblendung nicht verborgen geblieben, dass mit einem baldigen Ende des Bürgerkriegs zu rechnen wäre. Mehr als einmal trafen wir auf umgebrachte, an Laternen oder Bäumen aufgeknüpfte Compañeros.
Obwohl auch die Faschisten sich nie auf eine gemeinsame Doktrin hatten einigen können, waren sie nun unverkennbar in der Überzahl und Übermacht und wurden von weiten Teilen der Bevölkerung inzwischen wohl oder übel als die baldigen Sieger angesehen.
Unübersehbar war es geworden; an allem herrschte Mangel in unseren Reihen in diesem dritten Kriegsjahr, auch am Allernotwendigsten. Wir hatten inzwischen sogar berechtigten Grund unseren eigenen Erfolgsmeldungen zu misstrauen. Mir war für meinen sehr speziellen Einsatz bloss noch ein schäbiger Revolver zugeteilt worden. Die wenigen Karabiner, einst erbeutet aus den überquellenden Lagern der Legion Condor, hatte man für unseren Vortrupp und diejenigen Kameraden vorgesehen, welche unserem eigentlichen Sprengtrupp Deckung zu geben hatten.

Zweimaliger Ruf des Wiedehopfs, eine durchdringende Sequenz dreier aufeinanderfolgender „U’s“! So war es vereinbart, das Zeichen zum Aufbruch. 
Während sich meine Genossen zu den Bahngeleisen vorarbeiteten, schlich ich mich zum Felsvorsprung hoch, der mir als Beobachter zugedacht war. Was ich früher in meiner Heimat bei der Milizarmee gelernt hatte, kam mir jetzt und hier im Ernstfall erst recht zu statten. Ich nutzte, wie ich mir einbildete, geschickt die Deckung von mächtigen Findlingen, Felsen, Pinienstämmen und schliesslich knorrigen Korkeichen, versuchte dem dichten Unterholz, so gut es eben ging, auszuweichen und wusste, dass jedes unnötige Geräusch mein Todesurteil sein könnte. 

Die erwartete Schiesserei nach dem Attentat auf die Strasse war offensichtlich ausgeblieben. Entweder waren die Faschisten zu spät gekommen und auf ihrer Suche nach unserem Vortrupp ins Leere gelaufen. Oder hatten sie sich nicht täuschen lassen und ihre Bewachungsposten stur inne behalten?
Lana jedenfalls und die ihr Zugeteilten waren zweifellos unbehelligt geblieben und würden nun zu uns stossen und uns zusätzliche Deckung geben.
Der talseitige Schienenstrang und das darunterliegende Schotterbett sollten so gesprengt werden, dass die laut Geheimdienstberichten erwartete Zugskomposition in ungebremster Fahrt seitlich abkippen, teilweise in die Schlucht stürzen, Strasse und Schienenweg versperren und das Tal für Nachschub in die nahe Garnison auf Tage, wenn nicht auf Wochen gänzlich unpassierbar machen würde.
Mir war aufgetragen worden, die Eisenbahnstrecke von der Talschulter aus zu beobachten und das Herannahen des Zuges genau zum richtigen Zeitpunkt zu melden. Der Lokführer sollte ahnungslos so nahe heranfahren, dass er weder vorgewarnt und zum Bremsen veranlasst werden konnte, noch angesichts der Trümmerstelle eine Notbremsung würde einleiten können. Auch hier würde unser unüberhörbarer Erkennungsruf, wiederum der des männlichen Wiedehopfs, gepfiffen auf eigens dafür geschnitzten Holzpfeifen, das Zeichen für die Zündung der Sprengladung sein. 

Noch heute, Jahrzehnte später, sehe ich es vor mir, das Bild seines offensichtlichen Erschreckens. Intuitiv hatte ich mich nach rechts gedreht und in die Mündung des schussbereiten Karabiners geblickt. Mein Gegenüber hatte auf seinem Posten mich, den ihn lautlos anschleichenden Gegner, wohl genau so wenig erwartet, wie ich ihn.
Ich vermochte mich gerade noch zu Boden werfen, konnte aber den Revolver nicht mehr hochreissen. Dem ohrenbetäubenden Krachen folgte unmittelbar darauf der Schlag in mein rechtes Bein. Ich schrie auf, spürte jedoch erst keinen Schmerz, sondern bloss ein brutales Brennen. Instinktiv richtete ich mich wieder halbwegs auf, sah nichts als das Dreieck von Nase und Stirn zwischen seinen angstvoll aufgerissenen Augen. Sein Karabiner war für den Nahkampf, Mann gegen Mann, zu schwerfällig. Der Schuss aus meinem Revolver traf. So hatten wir dies mit Pappscheiben unzählige Male geübt. Hilflos fiel der Getroffene vornüber. 
Im selben Augenblick tauchte ein weiterer Soldat hinter dem Fallenden auf. Hatte ich tatsächlich einen gegnerischen Beobachtungsposten überrascht? Doch die Trommel meines Revolvers hatte sich nicht weitergedreht; der Abzug blieb blockiert! Der zweite, der erlösende Schuss schien unmittelbar an mir vorbei, von hinten, aus meinem Rücken gekommen zu sein! Ich sah den Angeschossenen noch sich hoch aufbäumen, das Gewehr mit der einen Hand umklammernd. Dann holte mich selbst rasender Schmerz ein und Nacht umfing mich.




Ich schien auf einer schmalen Holzpritsche zu liegen, diese eingezwängt in einen engen Raum. Die Wände aus sorgsam behauenem, aber von wirren Zeichen verunstaltetem Sandstein. Runen? Inschriften, Botschaften, Hilferufe, früherer Generationen? Nur über einen schmalen Mauerschlitz drang Tageslicht ein. Über mir, eine mittelalterlich anmutende Holzdecke, gebildet aus einer Auflage mächtiger, verzogener Holzbalken mit darüber gelegten roh behauenen Planken. Was mich geweckt hatte, wusste ich nicht. Ich schlummerte auch gleich wieder ein. Später wurde mir bewusst, dass ich wohl bereits Tage in diesem Verliess gelegen hatte, pendelnd zwischen kurzem Erwachen und besinnungslosem Dahindämmern. Mein eines Bein liess sich nicht bewegen; das war mir schon früher aufgefallen. Aber da waren auch Schmerzen, wenn auch meist erträgliche. Um meinen Kopf zu heben fühlte ich mich noch immer zu schwach. Das eine Auge schien von einer Binde verdeckt zu werden oder ich war erblindet. Kopfweh kam in Wellen, ebbte wieder ab. Manchmal meinte ich jemanden an meiner Seite wahrzunehmen. Und wirklich! Das waren mehr als blosse Fieberträume! Gelegentlich wurde ich hochgehoben; mir wurde fader Brei gefuttert. Ein Löffel zwischen meine Lippen gepresst. Dennoch, um mich war sogleich wieder nichts als Schweigen und Stille.

Das raue Spanisch des in eine helle Kutte gekleideten Mannes verstand ich nicht; ich konnte weder einzelne Worte ausmachen, geschweige denn einzelne Sätze auseinanderhalten. Er stand offenbar schon länger neben meiner Liege und schien eine Antwort zu erwarten. Schliesslich versuchte er sich mit gebrochenem Englisch verständlich zu machen.
Auf seine Frage nach meiner Herkunft, auch meinem Namen wusste ich keine Antwort. Geduldig verharrte er; meine Sprachlosigkeit schien ihn nicht zu verwundern. Hatte er schon früher mit mir sprechen wollen? Ich vermutete es, aber erinnerte mich nicht. Er zeigte mir einen Zettel mit flüchtig hingeworfener Handschrift. Diese war jedenfalls nicht in Spanisch geschrieben; ich glaubte die Worte erkennen zu können: „Alles Gute! Liebe Dich! Lana“.
Lana? Und „Lana“ sagte mir nichts. Aber bedeutete mir „Lana“ denn wirklich nichts? Später erfuhr ich, dass auf mir weder Ausweise noch irgendwelche Schriftstücke gefunden worden waren. Nicht einmal meine aus der Heimat mitgebrachte Erkennungsmarke, meinen „Grabstein“, wie er in unserer Milizarmee voller Galgenhumor bezeichnet worden war. Nichts anderes; sollte tatsächlich nur dieser eine handbeschriebene Fetzen der Schlüssel zu meiner Vergangenheit sein?
Ich verlor mich verzweifelt und ratlos wieder in meinen wirren Träumen. „Lana, Lana!“, hatte ich im Schlaf gesprochen? Lana, da endlich sah ich sie ganz deutlich vor mir. Unsere erste Umarmung. Scheu, nicht nur ich, wir beide damals.

Einen Tag, vielleicht zwei später, derselbe Mönch; seiner Kutte nach zu schliessen, zweifellos ein solcher. Ihm zur Seite, ein weiterer, jedoch offensichtlich deutschsprechender Glaubensbruder. „…Wir mussten Sie hier im Carcer unterbringen. Ja, tatsächlich in der Gefängniszelle, welche unsere Vorgänger vor vielen Jahrhunderten unauffällig hinter den Kapitelsaal angefügt haben, dem Raum, da, wo all unsere geistlichen Lesungen und Versammlungen stattfinden. Kaum zu finden, dieses Versteck! Zu ihrer eigenen Sicherheit haben wir Sie vorerst hier verborgen. Es wäre nicht das erste Mal, dass die Horden des Caudillos unser Kloster nach Flüchtigen durchsuchten. Der Generalissimo lässt sie ausschwärmen! Auch uns verschont er nicht! Ausgerechnet er, der sich gleichzeitig scheinheilig als grosszügiger Beschützer der katholischen Kirche aufspielt. Alles in diesem Krieg ist wirr. Chaos, Misstrauen, Missgunst, Korruption! Wir wissen kaum mehr, an wen wir uns noch halten sollten. Was und wem sollen wir noch glauben?“
Nach längerem Nachdenken fuhr er mit verhaltener Stimme fort: „Wir hier, wir verfolgen ähnliche Ziele wie die uns nahestehenden Trappisten. Auch unser Orden hat inzwischen einige aufgelassene Monasterios übernommen oder sogar vor der endgültigen Schliessung bewahrt.“ Trappisten, dunkel erinnerte ich mich später. Ein Mönchsorden, etwa im 17. Jahrhundert als Reformzweig hervorgegangen aus den Reihen der Zisterzienser.

„Ora et labora. Und damit Sie wissen, was das bedeutet: Täglich fünf Stunden des Betens und mindestens ebenso langer harter Arbeit. Durch unsere strenge Askese sind wir jeden Tag neu auf der Suche nach der göttlichen Wahrheit und nach dem Wort Gottes. Auch nach unserem eigenen Ich. Dies gemeinsam während der Andacht und davor und danach ein jeder für sich… Diese heiligen Fragen begleiten uns durch den ganzen Tagesablauf“
Ich hatte Mühe ihm zu folgen; Entkräftung, Müdigkeit und Entbehrungen der vergangenen Tage wollten mich wieder einholen. 
„…und mit der Arbeit“, für er nach einer nachsichtigen Unterbrechung fort, „… mit unserer Hände Arbeit sorgen wir für unseren Lebensunterhalt! Marmelade, Käse, Bier, Likör, Weihrauch, Körperpflegeprodukte, religiöse Kunst und weiteres Kunsthandwerkliches: Das einige unserer Produkte. Daneben führen wir ausserhalb der Klostermauern zwei grosse Bauernhöfe. Und wir sorgen für Kranke und Gebrechliche und teilen mit den Armen und Benachteiligten unser Brot.“
Er wurde unversehens heftig. „Wir sind auf uns gestellt, allein auf uns. Ihr bekämpft uns. Ihr habt nichts begriffen. Ihr Ungläubigen, Ihr gottlosen Antiklerikalisten; Ihr wollt die Allmacht der katholischen Kirche brechen! Aber wir - wir hier bestehlen niemanden, zwingen niemandem unsere Überzeugung auf. Wir sind allein auf unseren Dienst im Namen Gottes ausgerichtet. Wir leben von unserer Hände ehrlichen Arbeit. Nein wir nehmen niemandem etwas weg, wir helfen, wo wir können!“
Er schien nun selbst seinen Gedanken nachzuhängen. „Ihr Partisanen, ihr habt Euch verirrt, wisst nicht was Ihr tut! Geht zurück in Eure Heimat und lasst uns unsere Probleme selbst lösen! Wir brauchen Euch nicht! Lasst uns in Frieden, in Gottes Namen!“ 
Meine Entgegnung, unser Kampf sei ein Kampf für soziale Gerechtigkeit und Gleichheit und ein Ringen gegen das bittere Los der Armen und gegen die unheilige Allianz von Kirche und Feudalherrschaft, liess er so nicht gelten. 
„Lasst uns unseren Frieden! Unser Weg hat wie der der Trappisten im französischen Kloster von La Trappa begonnen und dort sind unsere Glaubensbrüder vor Jahrhunderten schon zu den wahren Wurzeln des Mönchtums zurückgekehrt. Wir besinnen uns zurück auf Benedikt von Nursia. Wir beachten wieder seine strengen in Vergessenheit geratenen Regeln über Ordnung und Zusammenleben im Kloster. Wir entsagen allem Weltlichen. Wir leben in der Abgeschiedenheit, widmen uns nichts als gottesfürchtiger Askese und strenger Arbeit.“ 

Vage entsann ich mich. Wir hatten einen Spähauftrag auszuführen und hatten dabei die mächtige Klosteranlage, geborgen und verborgen in einem sonst unbewohnten Seitental erstmals von weitem gesehen. Welch empörende Zurschaustellung von Macht und Reichtum! Trotz all seiner Beteuerungen! Diese kirchliche Dominanz und diese niederträchtige Machtentfaltung, diesen Machtmissbrauch endgültig zu brechen war eines unserer massgeblichen Ziele!
„Man hat Euch weisgemacht, wir seien Eure Feinde. Urteile selbst.“ Unbewusst schien er mich als einen der ihren zu duzen. „Urteile selbst! Vor dem Feind seid Ihr doch nichts als nur ein erbärmlicher Haufen dahergelaufener Fantasten! Im Stich haben sie Dich sogar gelassen! Deine feinen Compañeros! Haben deine grauenvollen Wunden mehr schlecht und recht versorgt. Auf einer behelfsmässigen Bahre aus Ästen haben sie dich vor der Dorfkirche liegen lassen und dann ist ihnen ihre eigene Haut wohl wichtiger gewesen. Nach dem Hilferuf des Pfarrers, da haben wir Dich zu uns geholt. Du wärst dort über kurz oder lang aufgegriffen und am nächst besten Laternenpfahl aufgeknöpft worden. Wir haben für Dich gesorgt! Denn Jesus sagt, du sollst deine Feinde lieben wie dich selbst...“
Trotz seiner Beteuerungen - ich war nun also in ihrer Gewalt und sah in meinem erbärmlichen Zustand vorerst keine Möglichkeit zur Flucht. Jetzt nicht, noch nicht, aber irgendwann jedoch würde sich Gelegenheit dazu ergeben, dessen war ich mir gewiss. Zu meiner Person und meiner Herkunft gab ich nur Unverfängliches Preis. „Bin der Sohn eines einfachen Schreinermeisters.“ Beantwortete ich seine Frage nach meinem Können, meinem Beruf, ob ich noch was anderes könne, als Kriegsspiele spielen.
Er sah mich fragend an. „Ja doch.“ Bestätigte ich. „Das Grundsätzliche der Holzbearbeitung ist mir im Elternhaus mitgegeben worden. Aber nicht mehr als das. Gegen den Willen meines Vaters habe ich dann Theologie studiert. Doch zu Gott habe ich dabei nicht gefunden und die Ordination als Pfarrer ist mir durch meine Glaubensgemeinschaft versagt geblieben. Zu unterschiedlich waren unsere Visionen, unsere Ansichten. Letztlich haben die grossen sozialen Ungerechtigkeiten in meiner Heimat meinen Weg bestimmt. Wiederum die Religionen als missbrauchte Instrumente der Macht. “Viel erschreckender noch als das Elend um mich herum allerdings waren da plötzlich die Hilferufe der hoffnungslosen Verteidiger der in sich zusammenbrechenden Spanischen Republik bis zu uns gedrungen. Deshalb mein Entschluss in Eurem Bürgerkrieg mitzukämpfen für Gleichheit und Gerechtigkeit.“ 

Hatte ihn meine Aufrichtigkeit zu überzeugen vermocht? 

„Du bist frei. Tu, was Dir Deine innere Stimme befiehlt. Noch schaut der Arzt täglich zu Dir. Bald aber sind Deine Wunden verheilt und dann kannst Du das Koster jederzeit verlassen.“ Ich war verwirrt und gleichzeitig beschämt, dass man in diesem Kloster aus christlicher Nächstenliebe und ungeachtet meiner Zugehörigkeit zu den Internationalen Brigaden nur mein Bestes zu wollen schien. „Unser Bruder Abt wird Dich noch heute aufsuchen; dann wirst Du zu entscheiden haben, wie es mit Dir weitergehen soll.“ 
Er spreche jedoch nicht Deutschen und ich würde ihn mit meinem spärlichen Spanisch kaum verstehen können. Ich bestätigte, des Lateinischen mächtig zu sein. Daraufhin zogen sich die Beiden erleichtert zurück.

„Deus nobis pacem dat...“ Gleich als er mir die Hand reichte und sich neben meine Pritsche setzte, war unverkennbar, dass auch der greise Abt in mir einen Hilfebedürftigen und keineswegs den Feind und Eindringling sah, der ich letztlich war. Er wiederholte, dass ich mich entscheiden solle. Hier das Ende des Bürgerkrieges abwarten oder zu meiner Truppe zurückkehren, wenn ich sie dann überhaupt noch finden würde? Wie mich die übrigen Klosterinsassen akzeptieren würden? Ich wusste es nicht und er liess dies ebenso offen. Bliebe ich, darauf bestand er mit Nachdruck, so hätte ich mich allerdings dem unabänderlich festgeschriebenen Tagesablauf, wie auch den strengen Schweige-Regeln und, unbesehen meiner eigenen Religion, den Buss- und Gebetsübungen zu unterwerfen. 
„Ob katholisch oder nicht, wir dienen dem gleichen Gott. Wie ich gehört habe, bist Du Theologe. Wirst demnach verstehen, dass wir uns alle hier den gottgegebenen strengen Regeln unterziehen. Alle! Wir sind hier sowohl geschulte und zum Teil sogar studierte Glaubensbrüder; aber auch Laienbrüder sind unter uns. Und davon nicht wenige. Zu Deinem Schutz würden wir Dich in unserer Mitte aufnehmen. Vorübergehend, bis das Schlimmste vorbei ist. Da Du nicht unseres Glaubens bist, werden wir Dich, solange Du hier bist als Oblate, als Laienbruder bei uns wohnen, beten und arbeiten lassen. Du würdest von Bruder Eusebius - Du kennst ihn bereits - Du würdest von ihm in unsere Klosterregeln eingeführt und müsstest zu Deinem eigenen Wohl eiligst Spanisch lernen. Denn wenigstens müsstest Du Dich, um Dich und uns nicht zu verraten, glaubhaft verständigen können. Ohne die Landessprache zu beherrschen, bliebest Du auch für uns ein untragbares Risiko. Wir wissen nicht, wann sie wieder zurückkehren. Und wenn erst die Legion Condor uns ihre Aufwartung macht, sind wir ohnehin alle unseres Lebens nicht mehr sicher. Solange der unselige Krieg dauert, stehst Du unter unserem Schutz, soweit dies in unserer Macht steht. Verstösst Du jedoch gegen unsere Regeln musst Du gehen.“
Trotz seines unverkennbaren spanischen Akzents hatte ich ihn leidlich verstanden. Dass er den lateinischen Buchstaben „c“ nicht als „k“ ausgesprochen hatte, hatte mir allerdings erst grosse Mühe bereitet. Er liess mir eine Nacht Bedenkzeit. 

Wenn die Faschisten, wie er mir dies hatte glauben machen, inzwischen die ganze Provinz beherrschten, hätte ich tatsächlich keine Möglichkeit mehr wieder zu meinen Compañeros zu stossen. So sie überhaupt überlebt hatten. 
„Hier habt Ihr nichts mehr zu suchen.“ Hatte er mir zu verstehen gegeben. „Die Zeit der Entscheidung ist gekommen. Auch wer sich bisher noch gegen den Caudillo aufgelehnt hat, gibt jetzt klein bei und streitet ab je anderer Gesinnung gewesen zu sein.“ 
Was wusste ich schon vom weiteren Verlauf dieses mörderischen Bruderkrieges? Ich hatte keinen Grund an seiner Einschätzung zu zweifeln. „Dieser bestialische Krieg hat sie alle zu Feiglingen gemacht. Aber schliesslich wollen wir alle ja überleben.“

Die darauf folgende Nacht meinte ich schlaflos verbracht zu haben. Dennoch dürfte ich zwischendurch weggedämmert sein. Nächtliche Zerrbilder bedrängten mich, waren vollends wirr und unzusammenhängend. Immer wieder erschien mir Lana. Was wollte sie mir sagen? Ich konnte mir am folgenden Morgen keinen Reim darauf machen.
Ich habe mich später oft gefragt, warum ich mich damals, vor über einem Vierteljahrhundert, so schnell und vorbehaltlos hatte überzeugen lassen, klösterliche Abgeschiedenheit dem bewaffneten Kampf für soziale Gleichheit und Gerechtigkeit vorzuziehen. War es Dankbarkeit? War ich feige? Nein, niemals nur Feigheit war meine Motivation gewesen! Niemals! Denn wäre ich ein verweichlichter Feigling gewesen, so wäre ich, als ich noch die Wahl gehabt hatte, in den grossen und, wie sich zeigen sollte, trotz des nachfolgenden Weltkriegs auch weiterhin sehr erfolgreichen Betrieb meines Vaters zurückgekehrt und damit bald ein gemachter Mann gewesen. Ich aber hatte vor Jahren dieses beschwerliche Studium vorgezogen und im Laufe anregender Vorlesungen und begeisternder Seminare erkennen müssen, dass mich an sich wohl die Inhalte, die Weissagungen und die Geschichte der Religionen brennend interessierten, dass ich aber dennoch im Rahmen der vorgegebenen Strukturen nie zum gläubigen Christen werden würde, als den ich mich ursprünglich gesehen hatte. Da hatte mir auch meine strenggläubige, an calvinistischen Idealen ausgerichtete Erziehung nicht weitergeholfen!
Zuviel Menschengemachtes, zu offenkundige Machtgier, gemeine Intrigen, allgegenwärtige Korruption und Kriegsgeschrei hatten mich bald an der Aufrichtigkeit gängiger Glaubensbekenntnisse zweifeln und verzweifeln lassen. Immer drängender hatte sich mir die Frage gestellt, was letztlich Religion und Gottesfurcht den Armen und Entrechteten unter uns gebracht hatten. Nur der rücksichtslose und unnachgiebige Klassenkampf erschien mir aussichtsreich um ihnen zu helfen. Ein Kampf allerdings, der, was mich betraf, zu bald zu einem Ende gekommen war. Denn nun sah ich mich in einem Kloster gestrandet. 

Frater Eusebius wurde mir zum treuen Wegbereiter und Mentor. Unvergesslich unser erster Rundgang durch das Kloster. Die Holzkrücken, eigens für mich angefertigt, waren beredtes Zeugnis klösterlicher Handfertigkeit. Eine gut eingerichtete Schreinerei und weitere Werkstätten gehörten zum Kloster und waren unentbehrlich, galt es doch die durch Nichtgebrauch und Vandalismus heruntergekommenen Anlagen dringend und zudem aufwändig wieder instand zu setzen. Während vieler Jahrhunderte hatten zahllose Menschenhände gebaut, umgebaut, niedergerissen und wieder restauriert. Mehrere Mönchsorden hatten sich in der bewegten Geschichte abgelöst. Umgeben war und ist bis in die heutigen Tage das Kloster von einer mächtigen und mit Türmen bewehrten Befestigungsmauer. Die Toranlage, geschützt durch drei mächtige Türme, hätte jeder mittelalterlichen Stadt zur Ehre gereicht. 

Eine dreischiffige Basilika war mit diesen mächtigen Ausmassen eigens für die Pilger erbaut worden. Immerhin hatte man ursprünglich Relikte eines der ersten Heiligen beherbergt, wie ich später aus Chroniken vernehmen sollte. Sarkophage und in den Boden eingelassene Grabplatten gaben Zeugnis der langen Reihe der Gründer und Gönner dieses Klosters. Den Lettner hatte man schliesslich im Zeichen einer Öffnung gegenüber den Pilgerströmen, den Laien, eingerissen. Der einstmals abgetrennte Kirchenchor diente den Klosterinsassen weiterhin für die täglich mehrfache Vereinigung im Gebet und als Ort persönlicher Einkehr. Zum ersten Mal sah ich hier die eindrücklichen, aus Alabaster geschnittenen Fenster, wie sie mir später noch oft in sakralen und profanen Gebäuden in Spanien begegnen sollten. Im Sonnenlicht wurden in den halbdurchlässigen Steinplatten fantasievolle Zeichnungen, entstanden aus unterschiedlichen mineralischen Ablagerungen, erkennbar. 

Ein geräumiger, mit mächtigen Kuppelgewölben überdachter gemeinsamer Schlafraum, das Dormitorium, stammte aus früheren Zeiten, war ursprünglich nur mit Stroh ausgelegt gewesen und war für die nächtlichen Gottesdienste der Mönche über eine Treppe unmittelbar mit dem Chor der Kirche verbunden. Das Dormitorium wurde jedoch nicht mehr benutzt. Frater Eusebius stimmte mir zu, dass dies für ihren Orden eigentlich unüblich war. Einige ihrer Klöster nutzen das Dormitorium weiterhin. Hier aber standen den Mönchen von einem früher hier ansässigen Orden eigens für die Mönche gebaute Zellen zur Verfügung. Die Oblaten, also die klösterlichen Laien, waren im Konversenhaus untergebracht und den Gästen vorbehalten war ein eigentliches Gästehaus.

Der quadratische um einen Innenhof gebaute Kreuzgang erlaubte den Mönchen den mehr oder minder geschützten Zugang zu Kirche, Kapelle, Sakristei, Refektorium, Kapitelsaal, Wärmestube, Küche und allen übrigen zentralen Räumen. Mehrere dieser Räume, wie Kreuzgang, Kirchenchor, Refektorium und Kapitelsaal gehörten zur Klausur und waren damit ausschliesslich für die Ordensmitglieder zugänglich. Dennoch führte Eusebius mich Aussenstehenden auch durch diese Klosterteile.

Jetzt, im anbrechenden Sommer, blieb es wegen der mächtigen Mauern und der hohen Räume im Kloster angenehm kühl. So unerträglich die Hitze in dieser Gegend während der Sommermonate war, so unerbittlich breitete sich im Winter jedoch die Kälte aus. Während der kalten Jahreszeit war es in der Küche dank der immer brennenden Feuer noch einigermassen erträglich. Nur ein einziger beheizter Raum, die Wärmestube, stand den Klosterinsassen zusätzlich noch zur Verfügung. Mit Schrecken erinnere ich mich heute dieser grausamen Winter. Notdürftig waren jeweils im Herbst die ohnehin nicht verglasten Fensteröffnungen mit Holzbrettern geschlossen worden. Trotz all dem, der unablässige Wind pfiff gnadenlos um alle Ecken und die steinernen Wände schienen alle Kälte ins Innere zu leiten. Während der ausnehmend frostigen Jahre anfangs des 18ten Jahrhunderts, der sogenannten „kleinen Eiszeit“, so erzählte Eusebius, hatte man den Kreuzgang zwar durch eine aufwändige Verglasung mittels lichtdurchlässigem Alabaster geschützt. Doch während späterer Plünderungen waren diese Einbauten wieder verloren gegangen. 




Toskana, meine Sehnsucht seit meiner ersten Semester. Lebendig gebliebenes Altertum!
Die Traubenernte ist eingebracht. Meiner Abreise steht nun nichts mehr entgegen. Zufrieden mit der Ernte sitzen wir im Hof unter der breit ausladenden Pinie. Vom diesjährigen Wein verspricht sich Antonio einiges. Aus dem nahen Ökonomiegebäude hören wir das gemütliche, metallische Ratschen, wenn die Kelter in regelmässigen Abständen nachgezogen wird. Zwei, vielleicht drei Mal wird Antonio während der Nacht noch den Pressdruck erhöhen gehen, bis dann am Morgen ausgeladen werden kann.

Angela hat Wein und frisch aus Kichererbsen zubereitetes Fladenbrot, das Farinata di Ceci, aufgetragen.
„Ja, ich weiss! Angela! So oft schon hast Du wissen wollen, ob es in meinem Leben nach Lana noch eine andere Frau gegeben hat. Du wunderst Dich noch immer über die vielen Jahre, die ich im Kloster verbracht habe. Mehr als zehn Jahre sind es schliesslich gewesen. Und das zölibatäre Leben, das ich danach geführt habe. Nein, nach Lana ist nichts mehr gekommen; es hat sich einfach nicht ergeben.“ 

Gute zehn Jahre! Ora et Labora: Das einzige, was ich während des ersten Jahres zu meinem Lebensunterhalt im Kloster beitragen konnte, waren meine mehr oder weniger profunden Fähigkeiten zur Holzbearbeitung. Alles vom Hörensagen und vom über die Schulter-Schauen Gelernte, damals in der väterlichen Schreinerei. So gerne hätte mich mein Vater als seinen Nachfolger gesehen. Immerhin war ich das einzige Kind, das ihnen geschenkt worden war.

Unmittelbar nach meiner endgültigen Genesung wurde ich dann tatsächlich der Schreierei zugeteilt. Der Zweite Weltkrieg hatte den Bürgerkrieg abgelöst. Umso brutaler, jedoch etwas weiter weg nun von unserem Kloster tobend! Arbeit stand bis zur Erschöpfung an. Krücken, wie sie für mich schon bereitgestellt worden waren, und Prothesen jeglicher Art für die unglücklichen Opfer des beendeten eigenen Bürgerkriegs einerseits und des jetzt aufbrechenden Weltkrieges andererseits waren Mangelware. Ich selbst war vorerst weiterhin auf Gedeih und Verderb auf den Schutz der klösterlichen Mauern angewiesen. In Spanien wäre ich als Feind des wieder erstarkenden Staates unter Führung des Caudillos standrechtlich auf der Stelle erschossen oder zum Vergnügen der Massen auf das Schafott geführt worden. In meiner Heimat drohte mir, als fahnenflüchtigem Landesverräter, vor ein erbarmungsloses Gericht gestellt zu werden. Immerhin hatte ich dort formal ja weiterhin der Milizarmee angehört.
Wie unter den Blinden der Einäugige König ist, so wurde mir bald die Leitung eines Bereichs der für das ökonomische Überleben des Klosters immer bedeutender werdenden Schreinerei übertragen. Mitunter wurden neben Laienbrüdern sogar Arbeitskräfte von ausserhalb der Klostermauern beschäftigt. Dass ich für die Prothesenherstellung Nägel und Schrauben wo immer möglich durch wesentlich dauerhaftere Holzdübel zu ersetzen begann, war die erste meiner Innovationen, die mir erfreulich gut gelang und mir rasch die Achtung meines Teams verschaffte.

„Ob ich zum Glauben gefunden habe? Ich bin Dir bis heute eine Antwort schuldig geblieben. Angela, kenne ich sie denn selbst, diese Antwort? Das frage ich mich oft! An Gott glauben? Unvoreingenommen seine Existenz hinnehmen? Was ist Gott? Nach all dem Leid, welches ich inzwischen selbst erlebt hatte und nach dem, was damals über die Welt hereingebrochen war, konnte ich trotz der klösterlichen Einkehr und der gottergebenen Askese immer weniger an die Existenz weise lenkender höherer Mächte glauben. Auch wenn diese Begründung weithin als abgedroschenes Argument gilt!“
Wie sollte ich mir eine allmächtige, behütende, leitende Gottheit vorstellen können angesichts dieses grenzenlosen Elends, das damals über die Menschheit hereingebrochen war und für das wir doch alle selbst Verantwortung zu tragen hatten. Wie einfach war es da doch, alle unsere Schuld und unser Versagen an Gott zu delegieren! Hatte ich schon während meines Studiums an meinem ursprünglich so unkritischen Glauben zu zweifeln begonnen, so verstand ich inzwischen kaum mehr, was mich damals zu dieser anspruchsvollen Berufswahl bewogen hatte. Wie konnte der Allmächtige diese erbarmungslosen Kriege zulassen? Wie konnte er eine zweitausendjährige Abfolge brutalster, zu oft gar in seinem Namen und Auftrag geführter Auseinandersetzungen gutheissen? War ihm die Kontrolle über die Menschheit längst entglitten? Noch kaum etwas war zum damaligen Zeitpunkt von den an den Juden begangenen Gräueltaten bekannt geworden.  Das, was man von den Misshandlungen Andersdenkender während des spanischen Bürgerkriegs inzwischen in Bruchstücken zu erfahren begann, war nur ein schaler Vorgeschmack auf brutale Wahrheiten, welche viel später erst zur Gewissheit werden sollten.
„Du sprichst wie ein Atheist!“, entgegnet Angela, „Und doch hat Dich Gott nie losgelassen?“

Mehr als zehn Jahre! Ora, der streng geregelte tägliche Dienst des Opus Dei, des Gotteslobes! Leicht nachvollziehbar, dass ich mich als aussenstehender, gänzlich unbeteiligter Beobachter fühlte, der mit wissenschaftlich distanziertem Interesse der monastischen Tagesabfolge gegenüberstand. Mein eigener religiöser Hintergrund verwehrte mir lange jeglichen Zugang zu dieser stringenten Art der Religionsausübung. 
Das Theologiestudium hatte mich wohl mit den nüchternen Fakten anderer Religionsauffassungen vertraut werden lassen. Folgte ich im nächtlichen Dunkel des Kirchenschiffes dem Stundengebet der Mönche im Kirchenchor, so nahm ich aber bald überrascht eigenes von reinem Wissen losgelöstes Erleben, Empfinden und Fühlen wahr. Mit den Wochen, Monaten in meinem unfreiwilligen Exil konnte ich mich diesen alt hergebrachten, von tief religiösem Bewusstsein geprägten klösterlichen Riten immer weniger entziehen. Frater Eusebius war mir inzwischen zum umgänglichen Freund und aufmerksamen Begleiter geworden und er führte mich auf mein Drängen hin auch profund in das Wesen und die religiöse Bedeutung klösterlichen Lebens ein.

Eines Tages hatte mich der Abt zu sich gebeten. „Ich weiss, Du bekennst Dich nicht zur katholischen Kirche. Du lehnst unsere Religion ab. Bist Du denn trotz allem gläubiger Christ? Glaubst Du an den Allmächtigen, an die heilige Dreifaltigkeit? Wie oft schon habe ich Dich in Kathedrale und Kapelle getroffen, versunken in tiefer Andacht. Du begleitest unsere sämtlichen Gottesdienste. Mein Sohn, wonach suchst Du? Wonach?“
Sein beharrliches Nachfragen begann mich zu tiefst zu irritieren und liess mich nicht mehr los. Ja, was suchte ich eigentlich? In den Bürgerkrieg hatte ich ziehen wollen um für weltliche Gerechtigkeit fern aller Religionen zu kämpfen. In einem Kloster war ich gestrandet und ein Jahr hatte ich damals bereits hinter Klostermauern verbracht. Der Abt wollte sich schliesslich mit meinen nichtssagenden Ausflüchten nicht mehr zufriedengeben. „Wach auf!“, hatte er mich ein ums andere Mal ermahnt.

Die Tagzeitenliturgieder Stundengebete, der Horen, bestimmte fortan immer deutlicher auch meinen Tagesablauf. Die Horen folgen fester Sequenz, inhaltlich beruhend auf den Psalmen und abgeleitet von den ursprünglichen täglichen Gebetszeiten des Judentums. „Ich lobe Dich des Tages sieben Mal.“, wie es ein Psalm darstellt. Daraus waren die täglichen Horen entstanden, Rituale beginnend zwischen Mitternacht und vor Tagesanbruch mit der Vigil, gefolgt von der deutlich längeren Laudes bei Tagesanbruch und abgeschlossen mit der Vesper als zentralem Abendgebet. Die tägliche Arbeit wird zudem unterbrochen durch kürzere, sogenannte kleine Horen, Prim, Terz, Sext und Non. Die Horengliedern sich in Gebete, Hymnen und Lesungen und umfassen im Wochenablauf sämtliche der 150 Psalmen. Eine zwingende Abfolge und festgelegte Wiederholung täglichen gemeinsamen Erkennens! So stand ich im Begriff endlich zu verstehen, dass es etwas geben musste, was über all dem Alltäglichen und der menschlichen Interpretation höherer Weisheiten stand und das uns hier in der gemeinsamen Andacht vereinigte! 

Noch heute kann ich mich nicht meiner damaligen überwältigenden Ergriffenheit entziehen. Die schweigend zu Vigil eilenden Mönche. Die mit nur wenigen Fackeln und Kerzen spärlich erleuchtete Kirche, der erregende Duft des Weihrauchs, die an gregorianische Zeiten mutenden Gesänge, die monotone Abfolge der Gebete und das einsame, nach dem Erlöschen der Lichter noch verbleibende ewige Licht. Die zeitlos gültige Weisheit, welche aus den uralten Psalmen sprach. Den ausgedehnteren Horen folgte stumme Andacht.  Das tröstende Bildnis der Mutter Gottes schien über das Kloster und seine Insassen zu wachen und Trost in schwerer Zeit zu verheissen.

Im ganzen Kloster herrschte streng beachtetes Schweigegebot. Davon ausgenommen war das Wenige, was für den täglichen Ablauf unerlässlich war. Dieses beharrliche Schweigen, so ungeheuer es mir ursprünglich vorkam, trug das seine zum mystischen Ambiente bei, das uns tagaus tagein umfing und in seinen unausweichlichen Bann zog. 
Stand ich jetzt, einem mir unbewussten archaischen Bedürfnis folgend, unerwartet im Begriff einen längst herbeigesehnten Zugang zur christlichen Mystik zu finden? Diese unfassbare Sehnsucht, welche mich ursächlich zu meinem Lebensentwurf und meinem Studium geführt hatte? Warum aber hatte ich denn in meinem damaligen streng religiösen, calvinistisch geprägten Umfeld letztlich meine Berufung doch nicht gefunden und warum war ich meinen Visionen schliesslich nicht gefolgt?
Der greise Abt wurde zu meinem geduldigen Lehrer und Wegbereiter. Meine Zweifel und Anfechtungen waren ihm nicht fremd; er begleitete mich, aber er begegnete mir in unseren inzwischen regelmässigen Aussprachen keineswegs mit blindem missionarischem Eifer, sondern mit Bedacht, Weisheit und Zuneigung. Er gewährte mir bald sogar freien Zugang zu der den Laienbrüdern grundsätzlich verschlossenen mönchischen Klausur und hatte durchgesetzt, dass ich, obwohl andern Glaubens, von der klösterlichen Gemeinschaft herzlich aufgenommen wurde. 
Mir standen unversehens die Archive des Klosters offen. Eine unüberschaubare Fülle an klösterlicher Dokumentation! Handschriften, Chroniken, Urkunden, Nachlässe, Pläne, Karten, Bücher, Tagebücher. Erlesene Zeugnisse der Kirchen- und Ordensgeschichte. Jetzt wurde mir die herausfordernde Aufgabe längst fälliger Sichtung und Ordnung übertragen. Ich sollte damit meine Lebensaufgabe und mehr noch, schliesslich auch meine eigentliche Berufung gefunden haben.

Rätselhafte religiöse Erleuchtung durch Meditation, wie ich sie für mich nun selbst im Begriff stand zu erfahren, folgte, wie ich heute denke, allerdings bereits damals weniger christlicher, sondern, unbewusst weit eher buddhistischer Prägung. Ich fand und finde mystische Erfüllung in einem von christlicher Überlieferung und Dogmatik losgelösten Erlebnis gesteigertem und vom Alltag gänzlich losgelöstem Erkennen meiner selbst und meines Umfeldes. Grenzüberschreitende Gotteserfahrung ebenso wie Trance und Entrückung liegen mir fern. Insofern blieb mir letzte klösterliche Erleuchtung in der Unio Mystika, die unmittelbare Erfahrung der Begegnung mit dem Göttlichen, für immer versagt.

„Nein, ich bin nicht konvertiert“, beantwortete ich Angelas Frage. „Bin auch nie dem Orden beigetreten. Hätte ich doch auch jederzeit das Kloster verlassen können.“ Seit inzwischen meine Abreise unabänderlich feststeht, bedrängt mich Angela. Sie gibt sich mit meinen Beteuerungen noch immer nicht zufrieden. „Du arbeitest im Auftrag des Vatikans. Das steht für mich längst fest. Mehr als einmal im Monat bringe ich Dir Post aus Rom hoch. Bei Dir gehen die Patres ein und aus. Du recherchierst in kirchlichen Archiven in aller Welt. Du bist dauernd unterwegs zu Seminaren und Vorträgen, gibst mir dicke Bücher zur Korrekturlesung.“
Erst mit den Jahren begann ich zu ahnen, was für mich an der mir in die Wiege gelegten reformierten Religionsauffassung nicht stimmig war. Erneuerung, Aufbruch, Zurückbesinnung auf die Wurzeln! Die Reformatoren und danach Generationen weiterer Erneuerer hatten zu Recht mit der Unnahbarkeit, dem weltlichem Macht- und Unfehlbarkeitsanspruch kirchlicher Institutionen gebrochen und menschengemachte Riten und Irrlehren aus Religion und Glaubensbekenntnis wieder verbannt, Ablasshandel als Missbrauch entlarvt, Korruption als solche benannt und die Kirche wieder zu den Menschen hin zu bringen versucht.

Was aber war misslungen? Eines hatten und haben die wohlmeinenden Eiferer bis heute übersehen. Und hier gehe ich mit dem Abt einig, das, auch wenn ich niemals konvertiert bin, wie mir Angela noch immer unterstellt. Sie haben das archaische Grundbedürfnis des Menschen nach mystischem Erleben, nach beglückenden liturgischen Ritualen übersehen und jahrtausendjährige katholische Tradition mit Unvernunft wissentlich, letztlich aber leichtfertig über Bord geworfen und sind damit fatalem Irrtum unterlegen. Sie haben uns ein abstraktes, unpersönliches, unnahbares Gottesbild hinterlassen. Schnöde haben sie auch den Wert der alten christlichen Lehre als Gesamtkunstwerk missachtet. „Eben erst meint ihr Euch mit Reformation und Aufklärung endgültig von allen menschengemachten Dogmen losgesagt zu haben. Doch Religion, Dogmen und Rituale sind der Menschheit ein Urbedürfnis. Das habt Ihr mit Eurer gut gemeinten Reformation übersehen!“ 
„Glaube mir!“ fuhr er fort. „Volksverführer, Kriegstreiber, Scharlatane, Fantasten, vermeintliche Heilsbringer und schliesslich andere erstarkende Religionen werden es verstehen die unerfüllbaren Sehnsüchte mit ihren Irrlehren zu stillen, die entstandenen Lücken schliesslich zu besetzen und sie alle, diese Wegelagerer, werden wohl kaum christlichen oder jüdischen Ursprungs sein. Gott möge uns vor unabwendbarem Unheil behüten.“ Dies, die ermahnenden Worte des weitsichtigen Abtes.

Wie auch die Trappisten hatten ihre Vorgänger einst den beschwerlichen Weg zurück zu den Wurzeln angetreten. Hier, im wohl ebenfalls nüchternen aber von tiefer und vorbehaltloser Ergebenheit und Einkehr bestimmten klösterlichen und mystisch geprägten Lebenskreis hatte ich endlich den Zugang zu den mich bedrängenden Fragen gefunden, welchen mir weder Studium noch Pfarrvikariate noch die Seelsorge einst hatten vermitteln können. 

Ich weiss nicht, ob Angela mich je wirklich verstanden hat. Ich habe es für sie mit den Worten, Beispielen, Gleichnissen und der Geduld ähnlich meinem mir väterlich zugetanen und leider längst verstorbenen Abt versucht. Viele Stunden haben wir in der Abenddämmerung unter meiner Pergola bei einem Glas toskanischen Weins zugebracht. Angela, studiert und profund gebildet, ehemalige Maestra an einem Ginnasio, bevor sie auf den Hof ihres zukünftigen Ehemanns gezogen war und schliesslich ganz den häuslichen Teil der bäuerlichen Aufgaben und dann die Erziehung ihrer drei Kinder übernommen hatte. Sie überrascht mich stets von neuem mit ihren kritischen Einwürfen und ihrem ausgeprägt logischen Denken. Und dennoch kann ich mir nicht vorstellen, dass ich wirklich zu ihr durchgedrungen bin. Wie wenig doch streng Gläubige meist ihren Glauben und ihre Religion hinterfragen und sie stattdessen als gegeben und als einzige Wahrheit akzeptieren. Gibt es Gott, den Allmächtigen wirklich? Mein Abt hat mich gelehrt, dass sich diese Frage gar nicht stellt, sondern, dass uns Menschen letztlich die mystische Erfahrung und daraus abgeleitet, eine allumfassende Weisheit eint, die über jedem von Menschen geschaffenen Gottesbegriff und über jeder Religion steht. 

Ja, auch mein Glaube fusst zweifellos auf Ritualen und meinen damit einhergehenden mystischen Erfahrungen. Wenn mir der Westwind die Kirchenglocken des fernen Siena zuträgt, halte ich andächtig inne und weiss, dass ich gelernt habe zu glauben. Das Hinterfragen hat für mich unverkennbar an Bedeutung verloren.

Ich glaubte in meinem Rücken verhaltene Schritte gehört zu haben, drehte mich um, sah aber gleich, dass die Türe des klösterlichen Archivs, die ich vorhin mit Bedacht zugezogen hatte, noch immer geschlossen war. Eine nach der andern hatte ich während der vergangenen Wochen die schweren Eichentruhen geöffnet, deren Inhalt gesichtet und registriert. Meinem Auftrag gemäss und meinem eigenen Interesse folgend. Wie seit Jahrhunderten üblich hatte man alle wesentlichen Dokumente und Wertgegenstände in solchen Truhen gelagert. Bei einem Brandfall oder einem anderen Ereignis hätten die Mönche sie an dicken, über die Schultern gelegten Balken befestigt, in Sicherheit getragen, im Kriegsfall unter Umständen sogar weggebracht um sie in geeigneten Verstecken oder in einem andern Kloster für die Nachwelt zu verbergen.

Mitternacht dürfte längst vorüber gewesen sein; mich hatte die Lektüre eines in Pergamentpapier eingeschlagenen und verschnürten Bündels loser Schriften in Bann gezogen und die Zeit vergessen lassen. Noch bekundete ich zwar einige Mühe mit dem Lesen und Verstehen alter handschriftlicher spanischer Texte. Meine Latein-, Französisch- und Italienischkenntnisse und der inzwischen intensive Spanischunterricht kamen mir zu statten. Dennoch benötigte ich oft die Unterstützung durch einen der Fratres. Rein kirchliche Dokumente aus jener Zeit waren glücklicher Weise meist noch in Lateinisch abgefasst worden und damit leicht zu verstehen. Wie ich bereits jetzt diesen Texten hier entnehmen konnte, schien es sich um Aufzeichnungen und Korrespondenz zu Meinungsverschiedenheiten, wenn nicht gar handgreiflichen Auseinandersetzungen um Wasser- und Fischereirechte des Klosters mit einem der scheinbar ach so wohltätigen Gönner zu handeln. Ich erinnerte mich augenblicklich an alte Darstellungen des Klosters mit seinen mächtigen Wasser- und Schöpfrädern, welche einen Teilstrom des nahen Baches über eine noch immer bestehende gemauerte Wasserrinne ins Innere des Klosters zu leiten hatten. Von den hölzernen Wasserrädern war indessen nur Weniges erhalten geblieben. Zweifellos war das herbeigeführte Wasser für die klösterlichen Manufakturen gebraucht worden. Ich dachte an Gerbereibetriebe, vielleicht sogar an frühe Papierherstellung. Und es war mir inzwischen ja zu meiner Aufgabe gemacht worden Leben, Arbeiten und Beten seit den Anfängen dieses Klosters zu ergründen und zu dokumentieren.

Im Gegensatz zu vielen sorgfältig gebundenen und beschrifteten Akten liessen diese Aufzeichnungen hier weit eher auf sehr weltliches, machtbesessenes Gebaren und Verhalten sowohl des Klosters als auch dessen angeblichen Gönners schliessen. Ich ordnete die erst in dieser Nacht entdeckten Dokumente schliesslich chronologisch und legte sie notdürftig verschnürt vorerst wieder in die Truhe zurück. Später würde ich mich eingehender damit befassen, eine Zusammenfassung erstellen und diese wie gewohnt zusammen mit zu den Dokumenten archivieren und meine Verzeichnisse ergänzen. Das Gelesene und das zwischen den Zeilen Vermutete hatten mich zu tiefst bewegt! Gier, Neid, Macht, Gewalt, so ganz im Gegensatz zu vorzulebender klösterlicher Ethik stehend! 
Mehr zu mir selbst als zu Angela hatte ich mich in Rage geredet. Mir war dennoch Angelas Verwirrung nicht entgangen. Ich konnte ihr meine Erregung nicht erklären. „Nein, das habe ich mich auch gefragt. Von Mord und Totschlag ist die Rede gewesen. Und es sind ja nicht die einzigen Zeugnisse kirchlicher Auseinandersetzungen, die ich gefunden habe, beileibe nicht!“ 

Warum waren Dokumente solcher Auswüchse nicht längst vernichtet worden und warum hatten sie mehrere Wechsel hier nacheinander ansässiger Mönchsorden überdauert?

An Schlafen jedenfalls war nicht zu denken. Wie so oft zu nächtlicher Stunde suchte ich den Kreuzgang auf und setzte mich auf eine vom gleissenden Mondlicht abgewandte Steinbank. 
In der Mitte der freien quadratischen Wiese mit den steinernen Fassungen für das kostbare Regenwasser plätscherte in dünnem Rinnsal über die einzelnen unter einander angeordneten runden steinernen Becken des antiken Brunnens. Deren Schöpfer hatten es vor Jahrhunderten, wohl der maurischen Tradition folgend, genial verstanden mit geringstem Wasserfluss ein mächtiges Wasserspiel vorzugaukeln.
Hell hob sich die mondbeschienene Seite des Kreuzgangs vom wolkenlosen pechschwarzen Himmel ab. Der Vollmond überstrahlte machtvoll das vergleichbar schwache Leuchten der Sterne. Gespenstig schauten die steinernen Wasserspeier von den Dächern. Grässlichen, furchteinflössenden Fratzen gleich warfen sie ihre einschüchternden Schatten! Was hatten sich die mittelalterlichen Erbauer von diesen Chimären erhofft? Waren sie sich der verheissenen Macht und Unfehlbarkeit schützender göttlicher Fürsorge doch nicht so ganz sicher gewesen und hatten bei den bewährten Kräften archaischer Geister Rückhalt und Schutz gesucht?

Leicht schlurfende Schritte des gebrechlichen Abtes begleitet von dem hohlen unverkennbaren Klacken des Gehstocks auf den steinernen Fliessen näherten sich. Mehrfach schon waren wir uns hier begegnet, wenn wir es beide aufgegeben hatten, Schlaf zu finden. Wortlos setzte sich der Abt zu mir. „Wir haben Dich vermisst. Hast Du das Stundengebet ausgelassen?“ 

Der Abt zeigte sich ehrlich überrascht über meine Schilderung des soeben entdeckten makabren Zeugnisses rüder Kirchengeschichte, hatte er sich doch offensichtlich bisher nie eingehend mit der Vergangenheit des Klosters und früher hier residierender Orden befasst. Das Gelesene schien mir Bestätigung für meine alten Zweifel an Ehrlichkeit und Rechtschaffenheit der Kirche im Allgemeinen! Ich fühlte mich zurückgeworfen in meine Studienzeit. Schon damals für mich unvorstellbar, unbegreiflich das Leid, welches rüde Kreuzzüge und Glaubenskriege hinterlassen hatten. Und all dies im Namen einer gütigen, umsichtigen Gottheit? 

Was, wenn Gott und mit ihm die biblische Geschichte nur eine Ausgeburt verblendeter, wenn nicht sogar schizophrener menschlicher Fantasien wären? Ich meine, es hat inzwischen sogar ernstgemeinte Versuche gegeben himmlische Erscheinungen auf banale epileptische Anfälle zurückzuführen.
„Mein Sohn, Gott hüte Dich vor solch sündigen Gedanken; sie gehören nicht hierher, nicht in diese heiligen Mauern. Überlass dies den Atheisten; niemand mit Verstand kann Wirrköpfe ernst nehmen. Nimm den Menschen ihren Gott und ihre Heiligen nicht weg! Wir werden geboren durch die Gnade Gottes, des Allmächtigen, wachsen auf, erst einmal wohl behütet durch unsere Eltern und die Gemeinschaft unserer Familie. Dies sind unsere ersten Vorbilder. Sie vermitteln uns Verhaltensregeln, setzen uns wichtige Schranken, gestehen uns Freiheiten zu, lehren uns, was Schuld und Sühne ist, führen uns hin zur Kirche. Undenkbares Leid erwächst jungen Menschen, welchen diese Gnade nicht zu Teil wird! Mit den Jahren werden wir reifer, selbständiger und gemächlich treten wir aus dem wohlwollenden Schatten und der Obhut unserer Eltern und unserer Familie heraus und unterstellen uns der Fürsorge, dem Schutz, der Führung und dem Trost und Segen unserer Religion, unserer Kirche, unserer kirchlichen Gemeinschaft und werden erwachsen im Glauben an die heilige Dreifaltigkeit und mit unserem demütigen Dienst an Gott.“ Ich meine diese Ermahnung des Abts gehört zu haben, als wäre es erst gestern gewesen.

„Angela, dies ist bloss die offizielle Überzeugung des Abtes gewesen. Zu plakativ damals bei unserem nächtlichen Disput sein Mahnen, seine Aufregung über meine Zweifel! Ich bin vor den Kopf gestossen gewesen, habe gemeint ihn auf der Kanzel zu seinen ihm anvertrauten Schäfchen predigen zu hören. Das ist nicht der weise, nachdenkliche, selbstkritische Geist gewesen, der da aus ihm gesprochen hat. Denn im Laufe unserer vielen Gespräche hat er mir nach und nach auch seine eigenen Zweifel offenbart. Auch er ist nicht von Anfechtungen verschont geblieben; auch er hat sich gewagt, allzu Selbstverständliches zu hinterfragen.“

Nachdenklich war der Abt in seinen Überlegungen fortgefahren. „Was aber, mein Sohn, wird aus uns Menschen, wenn wir den Rückhalt, den unsere Religion uns bietet und die uns verheissene Gnade immerwährender göttlicher Geborgenheit verlieren, weil wir unseren Gott in Frage stellen und gar verleugnen und weil wir unseren Glauben leichtfertig aufs Spiel setzen? Was wird aus dem Schatz Jahrtausende alter Weisheit und Erfahrung, welche unsere Religion für uns bereithält und damit unseren sozialen Zusammenhalt sicherstellt? Was würde dann aus unserer Gesellschaft, aus unserer Gemeinschaft ohne göttlichen Rückhalt?“
 Ich konnte mich seiner Logik nicht entziehen. Wie sollten einerseits unsere spirituellen Urbedürfnisse ohne die Vielfalt an Dogmen, Glaubensbekenntnissen, Gebräuchen und Riten der erfolgreichen Weltreligionen zu decken sein! Was andererseits, wenn wir uns innerhalb unserer Gesellschaft nicht mehr auf eine höhere uns leitende und einigende Autorität würden beziehen können? 
Überzeugte Atheisten hatten immer wieder versucht Antworten für eine Gesellschaft ohne Gott zu geben. Diese brennenden Fragen nach dem Essentiellen unserer Weltreligionen liessen mich nicht mehr los und waren ausschlaggebend und immerwährende Motivation für mein Lebenswerk insgesamt und für die jetzt noch vor mir liegende, vielleicht letzte Studienreise.

„Mach mir nichts vor! Ich meine, diese Fragen, die Dich da ein Leben lang begleiten und denen ich auch in Deinen Schriften immer wieder begegne, kann nur jemand stellen, der zumindest in seinem Unterbewusstsein eben doch zu tiefst religiös geblieben ist. Auch wenn er sich als Atheist begreifen möchte und sich als solcher seiner Umwelt offenbart.“
„Meinst Du?“
„Ja, meine ich.“
„Und wer meint, ist sich nicht sicher.“
„Du lenkst ab! Du bist ein zu tiefst gläubiger Christ geblieben, dies, trotz all Deiner Zweifel!“

Wir schweigen; Angela hat uns Wein nachgeschenkt: Dann ergänzt sie gedankenvoll: „Was sollen wir ohne unser Bekenntnis zu Gott? Und schau um Dich! Wir haben doch bereits unseren Glauben verloren; unsere Kirchen bleiben leer. Die heutige Menschheit, unser ganzer hochgelobter Kulturkreis; uns ist doch nichts als Egoismus, Ehrgeiz, Habgier, Herzlosigkeit, Grausamkeit geblieben! Ich weiss nur zu gut: Die Frage nach der Existenz Gottes können wir nicht stellen, weil sie uns niemand beantworten kann. Hier helfen uns nur die Bibel und unser Glaube weiter. Aber wir brauchen Antworten darauf, wie wir die Klugheit unserer religiösen Traditionen  für uns retten können. Und zwar dringend, auch wenn unsere Kirchen versagen, sich hinter Floskeln, Tradition und Katechismus verbergen und uns deshalb unser Glaube nachgerade abhandenkommt. Was müssen wir in unser atheistisch gewordenes Weltbild hinüberretten um zu überleben? Reformation und Säkularisation haben beide versagt, nichts als grosse Lücken haben sie uns hinterlassen. Wobei ja, wie Du in Deiner letzten Publikation einwandfrei hergeleitet hast, erst die Aufklärung die zentrale Frage nach den Menschanrechten überhaupt gestellt hat. Das immerhin dürfen wir ihr zugutehalten und das ist vor noch nicht allzu langer Zeit geschehen. Aber dennoch, es fehlt uns der grosse Zusammenhang. Der grosse Rahmen. Die zehn Gebote, wenn man sie denn beherzigen würde. Ich weiss, ich vereinfache sträflich. Aber der Rest wäre dann: Gesunder Menschenverstand innerhalb klarer Leitplanken eben dieser Gebote. Doch was tun wir um unsere Gesellschaft zusammenzuhalten? Wir flicken an unseren Rechtssystemen herum, produzieren immer neue Gesetze, Verordnungen, Normen, Richtlinien. Ein Krebsgeschwür, das uns umfängt, einengt und schliesslich erstickt und wir sind keinen Schritt weitergekommen. Eine Supernova, welche ihr eigenes Sonnensysteme schluckt, letztlich daran zu Grunde geht, indem sie explodiert und nichts als ein Schwarzes Loch hinterlässt um nur noch mehr Sonnensysteme aufzufressen! Du sollst nicht stehlen (Siebstes der Zehn Gebote Gottes, Anmerkung des Autors). So einfach wäre das. Doch was machen unsere Gelehrten und Politiker daraus? Ein Strafrecht, das aufbaut auf der falsch verstandenen Weisheit: „… vergib ihnen, denn sie wissen nicht was sie tun“ (Psalm 22.19 und Jesaja 53.12 etc., Anmerkung des Autors). Und vor lauter Vergeben sind wir keinen Schritt weitergekommen, nicht einen.“

Wir haben beide lange geschwiegen. Verhaltene Schritte in unserem Rücken. Angela fährt unbeirrt fort. „Warum krönst Du Dein Werk nicht damit, dass Du uns Antworten gibst? Denn ich weiss, Du kennst sie, oder zumindest ahnst Du sie, wenn auch vielleicht erst in Ansätzen, hast eine Vision, wie wir unsere Religion hinüberretten in unsere säkulare Gesellschaft!“
„Meinst Du?“
„Ja, meine ich und dabei bleibe ich, auch wenn ich meine!“
„Übt Ihr Euch in Wortspielchen?“ Antonio ist aus dem Dunkel des Gartens getreten. Hat er uns belauscht? 
Geprägt von archaischem Religionsverständnis würde er unseren häufigen Diskussionen, aber auch unseren Plänkeleien nicht folgen mögen. Vielleicht auch gar nicht wollen. Manchmal, und so auch heute, stösst er spätabends nach der Arbeit in Feld und Hof mit seinem Humor und seiner althergebrachten und bewährten Weisheit zu uns und unser Gespräch wendet sich wieder Alltäglicherem zu, bis wir beschwingt von unseren geistigen Höhenflügen schliesslich zu Bett gehen. 
Bald werden Antonios Bruder und dessen Frau auf den Bauernhof zu wohnen kommen und in der Landwirtschaft tatkräftig mithelfen, haben sie doch ihr zu kleines, nicht mehr überlebensfähiges Gut aufgeben müssen. Angela aber wird dennoch eine zweifellos schwere Lücke hinterlassen, wenn sie wie geplant wieder ihren zu ihrem eigentlichen Beruf zurückzukehren und meist in der nahen Stadt wohnen wird.




Zur Laudes, dem Morgengebet, versammelten sich Mönche und Oblaten ursprünglich bereits mitten in der Nacht. Noch heute beginnt mein Tag lange vor Tagesanbruch. Seit vier Uhr sitze ich unter meiner Pergola. Heute, einer der letzten warmen Tage. So heiss die Sommer, so kalt und unfreundlich dann die winterlichen Tage in den toskanischen Hügeln und Bergen. 

Warum ich jetzt meine Erinnerungen an längst Vergangenes zu Papier bringe? Mir sind keine Nachkommen vergönnt gewesen; die wenigen Verwandten, an welche ich mich noch erinnern kann, sind längst gestorben. Was soll ich da noch zurückblicken. Doch Angela hat nicht lockergelassen. Vor meiner Abreise sei ich ihr dies schuldig. „Was bringt unseren Jungen alle Theorie und Lehre, wenn sie unverständlich bleibt. Schildere Dein bewegtes Leben, lass sie teilhaben an Deinem Denken, Deinen Erfahrungen, Deinen Visionen.“ 

Und dann bleibt da noch Angelas hartnäckiges Fragen nach Lana. Svetlana Lembach, so hiess, nein, heisst sie mit vollem Namen. Denn ich habe sie wiedergefunden! Reiner Zufall oder Fügung? Beim Stöbern in einer Bahnhofsbuchhandlung - mein Anschlusszug wieder einmal mit der inzwischen üblichen Verspätung angesagt - da ist mir ihr Buch aufgefallen. Auf dem Buchumschlag, die junge Guerillakämpferin in ihrer schäbigen Uniform, den Karabiner vor sich hertragend, zweifellos ihr Konterfei. Das Motiv des vorwärtsstürmenden Karabinerträgers ging Jahre später als Schnappschuss eines mutigen Kriegsfotografen preisgekrönt um die Welt. Lana hatte also überlebt und ihre Berufung gefunden! Seither verfolge ich ihr Wirken und stöbere zuweilen in Zeitungsarchiven nach ihr.
"Lana...", Angela hat aufmerksam zugehört, schaut mich erwartungsvoll an. „Nein, Angela, Kontakt zu ihr habe ich nicht mehr gesucht. Zu lange ist das alles her. Lana, heute eine gefeierte und zugleich verfemte Autorin, ihre Bücher in viele Sprachen übersetzt. Vorwiegend Romane schreibt sie und damit ist sie berühmt geworden. Ihre Erzählungen kreisen immer um Existentialismus und Feminismus. Damals, während unserer gemeinsamen Zeit, war das Los der Armen und Ärmsten unser hehres Ziel gewesen. Jetzt allerdings setzt sie sich ausschliesslich, so scheint mir, für die Gleichberechtigung der Frauen ein. Ebenso kompromisslos! Die Guerillakämpfern, sie kommt nicht von ihrem Radikalismus los. Und hat Erfolg damit! Nicht alle ihre Romane, jedoch unzählige Rezensionen, Buchbesprechungen und Abstracts dazu habe ich inzwischen gelesen. Ja, ihrem klassenkämpferischen Ton jedenfalls ist sie treu geblieben.“

Unverdienter Weise bin ich zu einer beträchtlichen Erbschaft gekommen. Noch während einiger Jahre nach dem Tod meines Vaters hatte ein Geschäftsführer das Unternehmen weiter betrieben. Mit zweifelhaftem Geschick, leider. Schliesslich liquidierte mein Verwalter das Geschäft und verkaufte das gesamte Gelände als solches mit grossem Erfolg. Die nach dem Krieg aufstrebende Stadt hatte neuen Wohnraum benötigt. Ich habe mit dem Verkaufserlös dieses aufgelassene Bauernhaus hier, mit der wunderbaren Sicht auf die alte toskanische Stadt, gekauft und sorgfältig restaurieren und für meine Bedürfnisse anpassen lassen. Mein umliegendes, nach meinem Kauf nicht mehr bewirtschaftetes Land wird längst durch Antonio und Angela genutzt; die hochwillkommene Ergänzung ihrer Bewirtschaftungsfläche wird für sie das ökonomische Überleben für die kommenden Jahre sicherstellen. Was ich für meine restlichen Jahre voraussichtlich noch zum Leben und Arbeiten brauche, wird treuhänderisch verwaltet. 

Lana, ja, was hatte sie wirklich noch von mir gewollt damals während meiner Klosterzeit und war dies heute überhaupt noch von Belang? 

Viel später, auf seinem Krankenlager – er sollte es nicht mehr verlassen - hatte der Abt mich zu sich gerufen. „Ich war so vermessen zu glauben, dass Dir nach Höherem dürste, Du unserer Gemeinschaft beitreten würdest und es meine heilige Aufgabe wäre Dich vor Unbedachtem zu bewahren. Der Bürgerkrieg war bereits zu Ende gegangen, da hatte eine sehr attraktive Frau mehrmals nach Dir gefragt. Da Du Dich aber längst entschieden hattest in unserem Kloster zu verbleiben, habe ich Dich verleugnen lassen…“ 
Die zurückbehaltenen sieben Briefe Lanas, welche mir danach überreicht worden waren, habe ich nie geöffnet. Dadurch, so bin ich heute überzeugt, habe ich dem um mich väterlich besorgten Abt wenigstens posthum noch die, meine ganz persönliche, Absolution erteilt, die ihm zu Lebzeiten nicht mehr vergönnt gewesen war. 

Dem glücklosen Nachfolger des weisen Abtes war es leider beschieden dem Untergang unseres Klosters weitgehend tatenlos zusehen zu müssen. Das Klosterleben hatte seine Bedeutung für die Gläubigen verloren; kaum, dass sich noch Novizen gefunden hätten. Die Pilgerströme blieben ebenfalls aus. Industrielle Fertigung verdrängte klösterliche handgemachte Erzeugnisse. Und so habe ich dieses Kloster in Spanien verlassen, rechtzeitig, noch ehe es zu einem Parador, einem der vielen luxuriösen staatlichen Hotels, hätte umgebaut werden sollen.

Jetzt wird mich ein Stipendium für ein, vielleicht auch mehrere Jahre nach Asien führen auf der Suche nach Ursprung und Gemeinsamkeiten von Mystik und mystischen Ritualen in andern Religionen, insbesondere aber im Buddhismus. Mein Weg ist in groben Zügen vorgezeichnet. Längere Perioden werde ich in Klöstern verbringen. 

Nach meiner Rückkehr möchte ich mein Heimatland besuchen, das ich seit meinem überstürzten Aufbruch nach Spanien nicht mehr gesehen habe. Hilfsbereite Anwälte haben nach vielen Jahren erwirkt, dass mir die nie angetretene Gefängnisstrafe wegen meiner damaligen Desertion erlassen worden ist. Verjährung, letztlich ist mir zu Gute gekommen.

Angela wird für mein Haus und den wenigen Umschwung besorgt sein. Und ich freue mich heute schon ungemein auf die Rückkehr auf meinen toskanischen Alterssitz und auf eine mir noch verbleibende Zeitspanne, welche ich dann allerdings mit weniger Hektik und Reisetätigkeit anzugehen gedenke. 

Gar vieles ist noch abschliessend zu regeln und zu vereinbaren gewesen gestern Abend. Als Angela schliesslich aufgebrochen ist, sind mir ihre Tränen nicht verborgen geblieben und ich habe mich rasch abgewandt. Sie wird nach meinem Tod mein Erbe antreten und, davon bin ich überzeugt; sie wird auch die ihr übergebenen, noch immer ungeöffneten Briefe Lanas ungelesen vernichten so, wie ich es ihr aufgetragen habe. 

In meinem wissenschaftlichen Wirken habe ich mich beharrlich äusserster Objektivität und Neutralität befleissigt und mich der Widergabe eigener Erfahrung und Beurteilung wohlweislich enthalten. Dies hat mir die unerlässliche Achtung der Kirchenoberen alter und neuer Richtung verschafft. 
Angela hat manche meiner Bücher vor der Publikation zwar weniger inhaltlich aber umso gewissenhafter auf innere Logik und Schlüssigkeit geprüft. Hierfür und für ihre zahllosen kritischen Anregungen bin ich ihr zu grossem Dank verpflichtet. Die vorliegenden Zeilen habe ich im Laufe der vergangenen Wochen dank ihrem hartnäckigen Mahnen nach und nach zusammengetragen und fortwährend ergänzt, nur um festzustellen, wie vieles jetzt noch nachzutragen wäre. Nach meiner Rückkehr gedenke ich Begonnenes zu vollenden. Sollte mir dies nicht vergönnt sein, immerhin stehe ich in einem Alter, wo andere längst im Ruhestand angekommen oder nicht mehr von dieser Welt sind, so wird Angela das Geschriebene zu gegebener Zeit in angemessener Weise zu bereinigen und zu veröffentlichen wissen, wie sie auch für meine übrige geistige Hinterlassenschaft in meinem Sinne sorgen wird…




"Verzeih mir, geliebte Angela, dass ich nun mit meiner weiten und jetzt nicht mehr länger aufschiebbaren Reise für meinen letzten Forschungsauftrag, noch eine weitere Auszeit von Euch antreten werde. Du weisst, wie wichtig mir meine wissenschaftliche Arbeit immer war und ist und ich muss sie endlich zu einem Abschluss bringen. Ich habe Dir meine Gefühle für dich nie verraten; doch ich verspreche Dir, ich werde an der Geschichte meines Lebens weiterschreiben und es wird diesmal unsere Geschichte, Deine, liebe Angela, und meine, sein. So hoffe ich!"

Diese Zeilen sind durch Angela zuoberst in der Mappe mit letzten wichtigen Anweisungen gefunden worden. 

Ein Brief mit indischem Absender, wohl noch auf seine Veranlassung hin verfasst, mit der Nachricht über seinen Hinschied. Eine schwere, doch nur kurze Krankheit.

Seine lange geplante Reise ist zu seiner letzten geworden.



Dokument Nr.:                                         024



*pcf 2018. 


Dokument versandt:                   nein
Dokument gebloggt:                   ja