Samstag, 28. Januar 2012

Der rote Trierer (1)


Der Rote Trierer (1)

Neumond oder bereits wieder Vollmond vorbei; wie sollte er das wissen? Tags arbeitete er, nachts auch, und wenn ihn dann die Müdigkeit übermannte, da waren ihm die Mondphasen mehr als gleichgültig. Längst war vieles um ihn herum bedeutungslos geworden. Auch seine Familie, seine Kinder bereits ausgeflogen und auch Claudia? Ja, auch sie war im nicht mehr sein ein und alles, seine trotz aller Wirrnisse der letzten Jahre von ihm einst vergötterte Ehefrau.

Heute, spätabends, eben zurückgekehrt von seinem neuen Arbeitsort, hatte er den Taxifahrer spontan angewiesen ihn früher abzusetzen, hatte seinen Rollkoffer am Rand des um diese Zeit kaum befahrenen Strässchens abgestellt, war über den Zaun gestiegen und zum einzigen noch stehenden Baum geeilt. Jetzt, ohne Laub, reckten sich der mächtige Stamm und seine Äste wie verloren ins fahle Mondlicht hoch. Der letzte, noch nicht gefällte Baum in dem ehemaligen Obstgarten. Stuttgarter Weinapfel hatten sie ihn genannt; Roter Trierer nannte man ihn andernorts, ein Obstbaum, schon seit Jahrzehnten zu gross, zu mächtig geworden um noch als solcher genutzt zu werden. Herrlich mundende Äpfel, so man sie sofort ass, viel zu rasch verfaulend um als Tafelobst zu dienen. Gelegentlich brach ein Sturm  den einen oder andern Ast weg und konnte dem stolzen Riesen dennoch nichts weiter anhaben. Alle andern Bäume waren bereits gefällt worden und auch seinen Lieblingsbaum sollte in den nächsten Tagen dasselbe Schicksal ereilen. Ein letztes Mal, wohl bald hundertjährig, sollte er vergangenes Jahr, seine stolze Laubkrone getragen haben. Erst viel später, da stand er bereits mitten im Studium,  war ihm bewusst geworden, was ihm dieser Baum in seiner Jugend bedeutet hatte. Man konnte ohne Leiter nicht an ihm hochklettern. Zu hoch setzten die Äste am Stamm erst an. Deshalb war der Baum für ihn auch tabu und ihm das Hochklettern strengstens untersagt gewesen. Was ihn schon bald einmal nicht mehr gekümmert hatte!

War es nur das unabwendbare Schicksal dieses Baums gewesen, was ihn hatte zögern lassen? Was machte es ihm heute so schwer, nach Hause zurückzukehren?  Ausgerechnet heute, an ihrem Jahrestag, Seit weit über zwanzig Jahren hatte sie nie etwas davon abhalten können ihr Jubiläum zu begehen. Doch ihre gemeinsamen Wochenenden waren jetzt unaufhaltsam seltener geworden. Oft hielt ihn die Arbeit zurück und dann samstags lohnte eine Heimkehr kaum noch; am Sonntagmorgen hätte er bereits wieder zurückfahren müssen. Und da war noch das Andere. Das was, er von seiner flüchtigen Beziehung zu Julia niemals erwartet hätte. Nie im Traum hätte er sich ausmalen wollen, dass sie ihm folgen würde. Doch irgendwie hatte sie die Unternehmensleitung zu überzeugen gewusst, dass man auch sie an diesem Standort dringend brauchen würde. Probleme hatten sie dort mehr als genug zu bewältigen. Die kleinen und grossen Krisen waren an dem Unternehmen nicht spurlos vorüber gegangen. Und sie beide waren längst ein eingeschworenes Team; das war innerhalb des Unternehmens kaum jemandem verborgen geblieben. Das sollte nun bedenkenlos ausgenutzt werden-

Nicht dass sie zu ihm gezogen wäre. So etwas hätte er nicht gewollt und sie zweifellos auch nicht. Zu jung, zu unschuldig und vor allem zu unerfahren kam ihm ihre Beziehung vor, als dass er eine engere Bindung, eine neue Abhängigkeit gesucht hätte. Und doch war das Verbotene mächtiger als alle Vorsicht und Rücksichtnahme. Das Verbotene, das ihn immer zu locken vermocht hatte, unbezwingbare Versuchung, wie dieser Baum während seiner von Ablösung geprägten Jugendjahre.

Erst jetzt fiel ihm auf, dass das nahe Haus unbeleuchtet war, nicht einmal Licht im Flur. Niemand schien ihn zu erwarten. Dabei hatte ihr doch bereits gestern Mittag ausrichten lassen, dass er es nicht schaffen würde zum vereinbarten Ausflug zurück zu sein. Trotz ihres Jubiläums; wie sie dies wohl hingenommen hatte?.




*pcf 2011

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