Samstag, 28. Januar 2012

Ihre neue Wohnung


Ihre neue Wohnung

Sie war heute früher gekommen. Sie umarmten sich überschwänglich, küssten sich innig. Er hatte diese süsse Abwechslung nötig, kam gerade jetzt mit seiner neuen Herausforderung nicht vom Fleck. Wie so oft in letzter Zeit drehte er sich auf der Stelle. Diese paar gemeinsamen Stunden nur. Ja, sie  waren ihm heilig. Ein wohlverdienter Unterbruch jeweils, bevor sie zur Arbeit musste. Da schob er alles beiseite, auch wenn er wie heute noch so unter Druck stand.

Vieles vollzog sich mittlerweile zwischen ihnen, als wäre es ganz selbstverständlich. Dafür brauchte es keine langen Diskussionen mehr, kaum Worte. Kürzlich als sie an seinen gewohnten Stehtisch getreten war, da hatte er es sich nicht verkneifen können, „Wie ein altes Paar und Du strahlend und aufgestellt wie immer. Geht es Dir gut, den Abend endlich überstanden?“ Aufgekratzt beinahe, jedenfalls keine Spur müde, hatte sie herzlich gelacht, kannte und liebte seine rührenden Komplimente. Die Stammgäste hatten sich an das fröhliche ungleiche Paar gewöhnt. Nur wenige Männer und ab und an auch eine Frau drehten sich jeweils noch nach der attraktiven jungen Erscheinung um. Man konnte sich ihrem Anblick kaum entziehen. Unschuldiger und frischer als die vielen andern „Künstlerinnen“, die sich in dieser Gegend herumtrieben, aber unverkennbar doch auch eine von ihnen. Vielleicht beneideten sie ihn sogar, ihn den ergrauten Mittfünfziger.  Auch ihr Schlummertrunk abends nach ihren nächtlichen Vorstellungen war ihnen seit Jahren zur lieben Gewohnheit geworden. Treu wartete er auf sie, eilig zog sie sich nach ihrer letzten Runde an und wechselte eilig über die Strasse zu ihm in die gegenüberliegende Bar.

Als er die Vorhänge sorgsam zuzog, lag sie schon auf seinem Diwan, bloss andeutungsweise mit einem weinroten Tuch, wohl eher einem Schal bedeckt, ihr enganliegendes Schwarzes und ihre zarte Wäsche sorgfältig über einen Stuhl drapiert. Sie hatte sich ihm zugedreht, ihre Scham leicht verdeckt, ihre Brust frei. Die schwarze üppige Pagenfrisur umspielte ihre Stirn, ihre leicht geröteten Wangen. Klimt hätte seine Freude gehabt! Die blasse Deckenleuchte und seitlich die Stehlampe. Sie weiss sich ins rechte Licht zu rücken. Schliesslich gehört dies zu ihrem Beruf. Ihrer Berufung, wie sie ihm mehr als einmal versichert hat.

Er war noch nicht bereit gewesen; sie hatte ihn überrascht; nein, er hatte noch längst nicht mit ihr gerechnet.. Als er die mit satten Farben bestrichene Leinwand gegen eine neue, erst grundierte ausgewechselt hatte, war sie bereits weggedämmert, ein zartes Lächeln auf ihren Lippen.

Mit flachem, breitem Pinsel fügte er geduldig Schicht um Schicht hinzu. Es blieben ihm noch gute fünf Stunden, weit mehr als er benötigen würde. Eile war nicht angesagt. Endlich wieder einmal. Er hatte ein leichtes Ocker gewählt und arbeitete jetzt wieder zusätzlich etwas Weiss ein, malte Nass in Nass. Die gewohnte Wärme im Atelier liess die feinen Farbaufträge rasch trocknen. Bald schon begann er mit weicher Kohle ihre sanften Linien nachzubilden. Er kannte jedes Detail ihres Körpers und doch überraschten ihn ihre Rundungen, auch ihre zarten Fältchen immer wieder aufs Neue. Sie war seine Muse, längst nicht nur ein weiteres der zahlreichen glanzlosen Modelle.. Sein Leben ohne sie wäre wie einförmiger Brei verlaufen, wie das immer wieder verdünnte aber sorgsam gehütete Waschwasser seiner Pinsel. Nur fein, kaum wahrnehmbar getönt, später jedoch wieder zu gebrauchen als zarte Lasur, wo er diese denn überhaupt einsetzen durfte. Für seine verhassten Auftragsarbeiten jedenfalls nicht! Seine Kundschaft war anderes gewöhnt, forderte schreiende Akzente. Lara, weit mehr als ein alltägliches Modell, nein, ihr Stilempfinden überraschte ihn immer wieder aufs Neue, hatte ihm doch schon oft geholfen, den Weg weiter zu tasten. Seine immerwährende Suche nach Einmaligkeit, seine verzweifelte Flucht weg von ausgetretenen, aber von seinen Kunden offenbar nach wie vor geschätzten, geforderten Pfaden.

Seit Mauros noch immer kaum zu begreifendem, plötzlichem Tod ist war sie weit regelmässiger zu ihm gekommen, ungefragt, aber stets dann sicher zur Stelle, wenn ihm ihre Nähe unentbehrlich gewesen war. Immer noch bedrohte ihn das Alleinsein, unerträglich die langen einsamen Tage in seinem engen Atelier. Kaum hörbar öffnete sich jeweils die immer unverschlossene Tür und schon umarmte sie ihn, gab ihm auf den auf den Zehenspitzen hoch aufgerichtet den ersehnten Begrüssungskuss.

Die Kohle war ihm zum dritten Mal unmittelbar nacheinander entzweigebrochen. Wütend richtete er sich auf, trat zurück, begutachtete das angefangene Werk. Eine Schande! Unbegreiflich! Mit dieser Kritzelei kam er heute nicht klar, wo ihm das Skizzieren doch sonst stilsicher aus der Hand lief, beinahe schon unbewusst, wie von einer fremden Kraft geführt.

Chaos, Versagen, Wut, hilflose Verzweiflung… Er verstand nicht, was er hier anrichtete, hasste seine unbeholfenen Striche, scheute Philomenas kritischen Blick, zitterte vor ihrem treffenden Urteil.. Er griff erst nach einem der zahllosen schwarz eingefärbten Pinsel, schmierte in wütenden Strichen quer über die eben noch sorgfältige eingefärbte Fläche, übermalte erschüttert, was so vielversprechend begonnen hatte. Jetzt nahm er den dick mit roter Farbe getränkten Pinsel und warf ihn mitten in die Leinwand. Der Pinsel traf krachend die linke obere Ecke und zog mit seinem Fall eine Spur der Verwüstung in die nassen schwarzen Hilferufe. Ein einziges Werk des Grauens.

Längst war sie aufgewacht, ihren Schal achtlos zu Boden werfend, war sie hinter ihn getreten, sah sich erschüttert die Schandtat an. „Sag doch was!“ entfuhr es ihm,. Ja. schrie er sie regelrecht an, als wäre sie verantwortlich für seine heutiges abscheuliches Scheitern. Je häufiger solche Abstürze, desto schwieriger sich wieder aufzurappeln. Und die Abstürze wiederholten sich, in immer rascherer Folge. Er war um Jahre gealtert, trotz ihrer Fürsorge. Alles kam ihm inzwischen sinnlos vor. Wäre sie nicht gewesen; er wusste nicht, was er sich bereits angetan hätte.

Sie umarmte ihn von hinten. Ungläubiges Staunen hatte sie erfasst. So hatte sie ihn kennengelernt vor langen Jahren. Unbändig, mutig, nicht nach dem Warum fragend. Jede Kritik in den Wind schlagend! So liebte sie ihn. „Dies ist Dein Stil, das ist der Weg, nachdem Du schon so lange suchst“. Fassungslos drehte er sich nach ihr um. Er brauchte nicht nachzufragen, wusste, dass sie sich noch nie geirrt hatte.

Lange waren sie engumschlungen mitten im Atelier stehen geblieben. Mit Mühe nur schaffte er es die Spuren seiner ungestümen Umarmung zu entfernen. Die Farbe, einmal eingetrocknet, liess sich kaum mehr von der Haut, ihren zarten Härchen lösen. So verunstaltet würde sie ihre eleganten Verrenkungen auf der Bühne wohl kaum vorzeigen dürfen. Nur einmal hatte er ihrem Drängen nachgegeben, war er ihr in die Spelunke gefolgt, hatte sich angesehen, was so kaum zu ihr zu passen schien, hatte sich angewidert abgewandt, war unbemerkt verschwunden. Sie hatte ihn nie mehr erwähnt, als hätte es diesen Abend nie gegeben.

Die leichten Hautrötungen würden bald verschwunden sein. Sie zog sich an, zeigte keine Eile, schien ungewohnt zögerlich, als möchte sie den Abschied hinauszögern. Er hatte die Kleckse am Boden sorgsam aufgewischt, den herrenlosen Pinsel aufgehoben und ausgewaschen.

Lange sah er ihr nach, stand am Fenster. Er umklammerte den Fenstergriff, als wollte er das Fenster aufreissen, ihr verzweifelt nachrufen. Erst als sie schon lange um die übernächste Strassenecke verschwunden war, wandte er sich ab. Seine Füsse gaben unter ihm nach. Hilflos liess er sich fallen. Sein Schädel krachte gegen den Heizkörper. Den Schmerz fühlte er kaum. Noch immer konnte er nicht verstehen, was sie ihm zum Abschied eröffnet hatte. Sie würde heute gleich nach der Vorstellung ein Taxi nehmen und zu ihrer Freundin fahren. Die Wohnung auf der andern Seite des Flusses in einem der wohlhabenden Quartiere. Zu weit um fortan zu Fuss nach Hause zu finden. Nein, er müsse sie nicht begleiten. Nicht mehr. Sie sei gestern bei ihrer Freundin eingezogen. Definitiv und für immer. So es überhaupt ein Immer geben konnte in der ungestümen Beziehung zweier selbstbewusster, eigenständiger Frauen.


*pcf 2011

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