Samstag, 28. Januar 2012

Der letzte Zug


Der letzte Zug

Vor ihnen liegt der See. Windstille. Die morgendlichen Nebel haben sich zögernd aufgelöst, sind einer noch wankelmütigen Sonne gewichen. Zwischen den Ufersteinen verlieren sich die Wellen mit leisem Geplätscher. Die mächtigen Bäume entlang dem Ufer zeigen erstes Grün. Von nahen Bauernhof das Geläut einzelner Kuhglocken. In der Ferne der verschwommene Klang von Kirchenglocken, Mittagszeit.

Die grosse Arbeit ist getan! Dabei ist gestern für sie gar nicht mehr viel angestanden. Heute, diesen einen Tag auf der Hinreise haben sie sich ausbedungen. Morgen würde das Familientreffen stattfinden. Eine fröhliche und immer grösser werdende Runde, wie jetzt jedes Jahr.

Was würden die Dichter und Denker wohl dazu sagen? Sie, die vor Jahrhunderten hier Unterschlupf, Musse und willfährige Musen gefunden hatten? Ein erster prächtiger Frühlingstag und das altehrwürdige Restaurant und Hotel zu dieser verlockenden Jahreszeit noch geschlossen.

Verriegelt, wie damals. Ja, und wiederum haben sie im Vertrauen auf eine gastfreundliche Bewirtung weder was zum Trinken noch zum Knabbern dabei. Aber eine Decke um darauf am Ufer zu liegen, die haben sie diesmal nicht vergessen. Soviel haben sie die vergangenen vierzig Jahre gelehrt. Sie würden heute zweifellos die einzigen Besucher dieser romantischen Halbinsel bleiben, heute. Während der Sommermonate wird es um die beschauliche Stille hier geschehen sein. Nur selten sind sie im Sommer hergekommen, haben den Frühling vorgezogen um ihres Jahrestages hier zu gedenken. Immer seltener leider hatte sich in den vergangenen Jahren Gelegenheit für diese ihnen einst so wichtige Einkehr ergeben. Ihre Berufe und ihre familiären Verpflichtungen hielten sie auf Trab. Sie hatten sich oft mit kommenden Jahren getröstet und ihrer beider Ruhestand herbeigesehnt. Und doch bleiben ihnen auch jetzt, nach Aufgabe all ihrer Geschäfte, kaum Tage ohne irgendwelche Verpflichtungen.

Sie ist in seinem Arm eingedöst. Das rücksichtslose Geschnatter unversehens aufgetauchter Enten hat ihn wohl  geweckt. Er streichelt ihr eine widerspenstige Locke aus der Stirn. Ihre Haare wie immer sorgsam gepflegt, ein kastanienbraunes Dunkel, jetzt adrett geschnitten. Nur wenige Sonnenstrahlen genügen, auch in tiefstem Winter, und reihum wird sie nach ihrem letzten Urlaub gefragt. Ihr Antlitz jugendlich geblieben, wie einst. Ihre kunstvollen Ohrstecker haben es ihm schon immer angetan. Ihm selbst wird immer erst dann wieder bewusst, dass an ihm die Jahre nicht spurlos vorüber gegangen sind, wenn er sich auf einem der Fotos seiner längst erwachsenen Kinder wiedererkennt. Sein Spiegelbild bei der täglichen Rasur konfrontiert ihn selten mit dieser nüchternen Tatsache. Zu sehr haben sich er und sein ihm wohlbekanntes Abbild an einander gewöhnt.

Die gedruckten Anzeigen ihrer Verlobung endlich in Händen, war er sich jählings seines Mutes nicht mehr sicher gewesen. Alles war ihm plötzlich als zu überstürzt umgesetzt erschienen. Er liebte sie innig, kein Zweifel, doch zu überraschend war es über sie beide gekommen. Sie, eben einer fragwürdigen Beziehung entkommen. Für ihn eine mehrjährige Partnerschaft vor wenigen Monaten erst zu Ende gegangen. Wollte, sollte, konnte er sich eine neue Verpflichtung leisten? Mochte er die Aussicht auf Verlust, Trauer und unsägliche Leere noch einmal auf sich nehmen, wenn auch dies nur ein Abenteuer sein und letztlich ins Leere laufen sollte? War er sich ihrer wirklich sicher? War er sich seiner eigenen Gefühle für sie im Klaren?

Aber trotz seines Zögerns, sie hatten sich bereit gefühlt für einander und schliesslich hatte er sich auch über seine letzten Vorbehalte hinweggesetzt. Purer Zufall hatte sie zusammengeführt. Alles hatte so zauberhaft begonnen. Dann, ihr erster gemeinsamer Ausflug. Damals eben noch ohne die bequeme Liegedecke. Er war mit der Bahn gekommen und sie hatte versprochen ihn rechtzeitig am Bahnsteig zu erwarten. Gleich bei der Einfahrt des Zuges hatte er sie entdeckt. Nicht zu übersehen. Ihr orangefarbener Mantel, Mode der Wahl damals.. Allerding hatte sie ihn am entgegengesetzten Ende des Bahnsteigs erwartet und so war sein Wagon zunächst kaum gebremst an ihr vorbeigebraust. Er hatte sich unter die Aussteigenden gemischt und sich unerkannt hinter einer Säule verborgen. Der Bahnsteig hatte sich entleert und er hatte sie gemessenen Schrittes der Treppe zugehen sehen. War sie verunsichert, enttäuscht ob seines offensichtlichen Ausbleibens? Was hatte sie sich von ihrem Treffen erhofft?

Doch da hatte sie ihn auch schon entdeckt.

Alles hatten sie sich noch offen gelassen, nichts Konkretes hatten sie geplant. Seinen Vorschlag mit der romantischen Halbinsel nahm sie begeistert auf. Die rasante Fahrt in ihrem gelben Mini mit schwarzem Velourdach – gelb und schwarz, der Kriegsbemalung  von Wespen und Hornissen nicht unähnlich – wurde zur sportlichen Herausforderung. Erst Jahre später würden Sicherheitsgurten und Airbags zum Standard gehören. Während ihrer Wanderung zum Ende der Insel erzählte von ihrem kürzlichen turbulenten Ausflug mit ihren Musikerkollegen hierher und von andern musikalischen Abenteuern.

Beim kleinen, verwaisten Bootshafen des Inselrestaurants fanden sie eine einsame Bank. Die noch nahezu kahlen Trauerweiden spendeten dennoch bereits etwas Schatten. Sie sprachen von Vergangenem, ihren Neigungen und ihren Wünschen für die Zukunft. In der Matrix ihrer beider Vorsätze und Visionen suchten sie unbewusst nach Gemeinsamem und zweifelohne schon nach einer Basis für Künftiges. Fehler ihrer Eltern wollten sie beide nicht wiederholen. Von ihrem Berufsleben wollten sie sich nicht gleichermassen vereinnahmen lassen. Nach Kindern, nach einer Familie sehnten sie sich beide. Beruflich gab es einige Gemeinsamkeiten. Er noch in den letzten Semestern seines Studiums, sie bereits auf eigenen Füssen stehend. Ob ihrer mutigen Laborexperimente mit ihren Schülern sträubten sich ihm die Haare. Aber, noch kaum sechzehn jährig hatte er selbst die Holzscheite im Kamin seines Grossvaters chemisch zur Zündung gebracht. Ein Paukenschlag mit Blitz und Donner. Beissender Rauch war über die versammelte Familie hereingebrochen. Und noch Jahre später behauptete sein Grossvater scherzend nicht nur jegliches Eisen in seiner guten Stube, sondern auch sämtliches Holz würde seit diesem Attentat vor sich hin rosten. Ihre Hobbies und Interessen konnten unterschiedlicher nicht sein. Doch bei aller Verschiedenheit ergaben sich dennoch erstaunliche Übereinstimmungen.

Er mochte sie. Er mochte ihre Unternehmungslust, ihre Offenheit, ihren Humor, ihre Lebenserfahrung. Sie konnte gleichermassen spannend erzählen wie aufmerksam zuhören und… Sie schien ihn nicht minder zu mögen.

Erst die untergehende Sonne und unstillbarer Hunger liessen sich schliesslich aufbrechen. Aus dem geplanten Nachmitttag wurde nun auch ein Abend. Nach Einkäufen für ihr Nachtessen fuhr sie mit ihm zu ihrer Wohnung. Ein einzelnes Zimmer nur, mit separater Küche allerdings. Ihr grosses gemütliches Zimmer war Wohn- Schlaf- und Arbeitsraum, Partytreffpunkt, Musikzimmer, Kuschelecke und Konzertsaal zugleich. Auf ihrem Büchergestell stapelten sich Schallplatten und Mitschnitte der vielen Konzerte, an denen sie mitgewirkt hatte. Über der Wiese vor ihrem Balkon kreisten Möwen.

Was sie zubereitet hatte, schmeckte köstlich; über seine etwas linkischen Kochkünste bei der Zubereitung flambierter Bananen lachten sie später noch lange. Das Requiem von Brahms, sie stand eben in der Vorbereitung dieses Konzerts. Beim Musikhören vergassen sie die Zeit. Nur mit halsbrecherischer Autofahrt zum übernächsten Bahnhof erreichten sie noch seinen letzten Zug – als sie sich zum Abschied umarmten, da wussten sie beide, dass aus ungeplanten Abenden wohl bald auch ungeplante Nächte, Wochenenden und schliesslich eine gemeinsame Zukunft werden würde.


 
*pcf 2012

Ihre neue Wohnung


Ihre neue Wohnung

Sie war heute früher gekommen. Sie umarmten sich überschwänglich, küssten sich innig. Er hatte diese süsse Abwechslung nötig, kam gerade jetzt mit seiner neuen Herausforderung nicht vom Fleck. Wie so oft in letzter Zeit drehte er sich auf der Stelle. Diese paar gemeinsamen Stunden nur. Ja, sie  waren ihm heilig. Ein wohlverdienter Unterbruch jeweils, bevor sie zur Arbeit musste. Da schob er alles beiseite, auch wenn er wie heute noch so unter Druck stand.

Vieles vollzog sich mittlerweile zwischen ihnen, als wäre es ganz selbstverständlich. Dafür brauchte es keine langen Diskussionen mehr, kaum Worte. Kürzlich als sie an seinen gewohnten Stehtisch getreten war, da hatte er es sich nicht verkneifen können, „Wie ein altes Paar und Du strahlend und aufgestellt wie immer. Geht es Dir gut, den Abend endlich überstanden?“ Aufgekratzt beinahe, jedenfalls keine Spur müde, hatte sie herzlich gelacht, kannte und liebte seine rührenden Komplimente. Die Stammgäste hatten sich an das fröhliche ungleiche Paar gewöhnt. Nur wenige Männer und ab und an auch eine Frau drehten sich jeweils noch nach der attraktiven jungen Erscheinung um. Man konnte sich ihrem Anblick kaum entziehen. Unschuldiger und frischer als die vielen andern „Künstlerinnen“, die sich in dieser Gegend herumtrieben, aber unverkennbar doch auch eine von ihnen. Vielleicht beneideten sie ihn sogar, ihn den ergrauten Mittfünfziger.  Auch ihr Schlummertrunk abends nach ihren nächtlichen Vorstellungen war ihnen seit Jahren zur lieben Gewohnheit geworden. Treu wartete er auf sie, eilig zog sie sich nach ihrer letzten Runde an und wechselte eilig über die Strasse zu ihm in die gegenüberliegende Bar.

Als er die Vorhänge sorgsam zuzog, lag sie schon auf seinem Diwan, bloss andeutungsweise mit einem weinroten Tuch, wohl eher einem Schal bedeckt, ihr enganliegendes Schwarzes und ihre zarte Wäsche sorgfältig über einen Stuhl drapiert. Sie hatte sich ihm zugedreht, ihre Scham leicht verdeckt, ihre Brust frei. Die schwarze üppige Pagenfrisur umspielte ihre Stirn, ihre leicht geröteten Wangen. Klimt hätte seine Freude gehabt! Die blasse Deckenleuchte und seitlich die Stehlampe. Sie weiss sich ins rechte Licht zu rücken. Schliesslich gehört dies zu ihrem Beruf. Ihrer Berufung, wie sie ihm mehr als einmal versichert hat.

Er war noch nicht bereit gewesen; sie hatte ihn überrascht; nein, er hatte noch längst nicht mit ihr gerechnet.. Als er die mit satten Farben bestrichene Leinwand gegen eine neue, erst grundierte ausgewechselt hatte, war sie bereits weggedämmert, ein zartes Lächeln auf ihren Lippen.

Mit flachem, breitem Pinsel fügte er geduldig Schicht um Schicht hinzu. Es blieben ihm noch gute fünf Stunden, weit mehr als er benötigen würde. Eile war nicht angesagt. Endlich wieder einmal. Er hatte ein leichtes Ocker gewählt und arbeitete jetzt wieder zusätzlich etwas Weiss ein, malte Nass in Nass. Die gewohnte Wärme im Atelier liess die feinen Farbaufträge rasch trocknen. Bald schon begann er mit weicher Kohle ihre sanften Linien nachzubilden. Er kannte jedes Detail ihres Körpers und doch überraschten ihn ihre Rundungen, auch ihre zarten Fältchen immer wieder aufs Neue. Sie war seine Muse, längst nicht nur ein weiteres der zahlreichen glanzlosen Modelle.. Sein Leben ohne sie wäre wie einförmiger Brei verlaufen, wie das immer wieder verdünnte aber sorgsam gehütete Waschwasser seiner Pinsel. Nur fein, kaum wahrnehmbar getönt, später jedoch wieder zu gebrauchen als zarte Lasur, wo er diese denn überhaupt einsetzen durfte. Für seine verhassten Auftragsarbeiten jedenfalls nicht! Seine Kundschaft war anderes gewöhnt, forderte schreiende Akzente. Lara, weit mehr als ein alltägliches Modell, nein, ihr Stilempfinden überraschte ihn immer wieder aufs Neue, hatte ihm doch schon oft geholfen, den Weg weiter zu tasten. Seine immerwährende Suche nach Einmaligkeit, seine verzweifelte Flucht weg von ausgetretenen, aber von seinen Kunden offenbar nach wie vor geschätzten, geforderten Pfaden.

Seit Mauros noch immer kaum zu begreifendem, plötzlichem Tod ist war sie weit regelmässiger zu ihm gekommen, ungefragt, aber stets dann sicher zur Stelle, wenn ihm ihre Nähe unentbehrlich gewesen war. Immer noch bedrohte ihn das Alleinsein, unerträglich die langen einsamen Tage in seinem engen Atelier. Kaum hörbar öffnete sich jeweils die immer unverschlossene Tür und schon umarmte sie ihn, gab ihm auf den auf den Zehenspitzen hoch aufgerichtet den ersehnten Begrüssungskuss.

Die Kohle war ihm zum dritten Mal unmittelbar nacheinander entzweigebrochen. Wütend richtete er sich auf, trat zurück, begutachtete das angefangene Werk. Eine Schande! Unbegreiflich! Mit dieser Kritzelei kam er heute nicht klar, wo ihm das Skizzieren doch sonst stilsicher aus der Hand lief, beinahe schon unbewusst, wie von einer fremden Kraft geführt.

Chaos, Versagen, Wut, hilflose Verzweiflung… Er verstand nicht, was er hier anrichtete, hasste seine unbeholfenen Striche, scheute Philomenas kritischen Blick, zitterte vor ihrem treffenden Urteil.. Er griff erst nach einem der zahllosen schwarz eingefärbten Pinsel, schmierte in wütenden Strichen quer über die eben noch sorgfältige eingefärbte Fläche, übermalte erschüttert, was so vielversprechend begonnen hatte. Jetzt nahm er den dick mit roter Farbe getränkten Pinsel und warf ihn mitten in die Leinwand. Der Pinsel traf krachend die linke obere Ecke und zog mit seinem Fall eine Spur der Verwüstung in die nassen schwarzen Hilferufe. Ein einziges Werk des Grauens.

Längst war sie aufgewacht, ihren Schal achtlos zu Boden werfend, war sie hinter ihn getreten, sah sich erschüttert die Schandtat an. „Sag doch was!“ entfuhr es ihm,. Ja. schrie er sie regelrecht an, als wäre sie verantwortlich für seine heutiges abscheuliches Scheitern. Je häufiger solche Abstürze, desto schwieriger sich wieder aufzurappeln. Und die Abstürze wiederholten sich, in immer rascherer Folge. Er war um Jahre gealtert, trotz ihrer Fürsorge. Alles kam ihm inzwischen sinnlos vor. Wäre sie nicht gewesen; er wusste nicht, was er sich bereits angetan hätte.

Sie umarmte ihn von hinten. Ungläubiges Staunen hatte sie erfasst. So hatte sie ihn kennengelernt vor langen Jahren. Unbändig, mutig, nicht nach dem Warum fragend. Jede Kritik in den Wind schlagend! So liebte sie ihn. „Dies ist Dein Stil, das ist der Weg, nachdem Du schon so lange suchst“. Fassungslos drehte er sich nach ihr um. Er brauchte nicht nachzufragen, wusste, dass sie sich noch nie geirrt hatte.

Lange waren sie engumschlungen mitten im Atelier stehen geblieben. Mit Mühe nur schaffte er es die Spuren seiner ungestümen Umarmung zu entfernen. Die Farbe, einmal eingetrocknet, liess sich kaum mehr von der Haut, ihren zarten Härchen lösen. So verunstaltet würde sie ihre eleganten Verrenkungen auf der Bühne wohl kaum vorzeigen dürfen. Nur einmal hatte er ihrem Drängen nachgegeben, war er ihr in die Spelunke gefolgt, hatte sich angesehen, was so kaum zu ihr zu passen schien, hatte sich angewidert abgewandt, war unbemerkt verschwunden. Sie hatte ihn nie mehr erwähnt, als hätte es diesen Abend nie gegeben.

Die leichten Hautrötungen würden bald verschwunden sein. Sie zog sich an, zeigte keine Eile, schien ungewohnt zögerlich, als möchte sie den Abschied hinauszögern. Er hatte die Kleckse am Boden sorgsam aufgewischt, den herrenlosen Pinsel aufgehoben und ausgewaschen.

Lange sah er ihr nach, stand am Fenster. Er umklammerte den Fenstergriff, als wollte er das Fenster aufreissen, ihr verzweifelt nachrufen. Erst als sie schon lange um die übernächste Strassenecke verschwunden war, wandte er sich ab. Seine Füsse gaben unter ihm nach. Hilflos liess er sich fallen. Sein Schädel krachte gegen den Heizkörper. Den Schmerz fühlte er kaum. Noch immer konnte er nicht verstehen, was sie ihm zum Abschied eröffnet hatte. Sie würde heute gleich nach der Vorstellung ein Taxi nehmen und zu ihrer Freundin fahren. Die Wohnung auf der andern Seite des Flusses in einem der wohlhabenden Quartiere. Zu weit um fortan zu Fuss nach Hause zu finden. Nein, er müsse sie nicht begleiten. Nicht mehr. Sie sei gestern bei ihrer Freundin eingezogen. Definitiv und für immer. So es überhaupt ein Immer geben konnte in der ungestümen Beziehung zweier selbstbewusster, eigenständiger Frauen.


*pcf 2011

Der Korken


Der Korken

Die Möbel waren zur Mitte des Zimmers geschoben. Noch am Vorabend hatten die Maler sie sorgfältig abgedeckt. Heute Abend würde die sichelförmige Kerbe verschwunden sein.

Zwanzig Jahre hatte sie auf diesen Augenblick gewartet, hatte die Ungewissheit nicht ertragen können. Ob er je zur Decke hochgeschaut hatte. Über die Jahre hatte sich die Patina ausgebreitet, hatte die Kerbe im Stuck langsam überdeckt sowie auch in ihrer Beziehung langsam die Höhen und Tiefen ausgeglichen worden waren.

Sie hatte sich geärgert; wusste er denn nicht, dass es längst nicht mehr nicht zum guten Ton gehörte Champagnerkorken knallen zu lassen. Ihre Schwestern hatten ihr dies klar gemacht, wussten sie doch als Flugbegleiterinnen, was sich schickte.

Konnte man überhaupt anknüpfen an eine Geschichte, welche seit vielen Jahren nur noch in ihrer beider Erinnerung weiterlebte? In ihrer schäbigen Bude hatten sie sich noch mit billigerem Asti begnügt. Jetzt musste es zu den Austern was Besonderes sein. Standesgemäss, ihr war plötzlich nicht mehr zum Lachen. Sie hatte ihn um das Treffen gebeten, hatte sich aussprechen, sich erklären wollen. Zu schnell und unbedacht hatten sie sich damals aus den Augen verloren. Vielleicht hätte es ein neuer Anfang werden können. Sie hatte nicht an die Konsequenzen denken wollen. Seine Ungeschicklichkeit hatte sie in die Realität zurückgeworfen.

Mit Schrecken hatte sie der Rückkehr ihres Mannes von seiner Bildungs- und Kulturreise entgegengefiebert. Striche waren für sie immer noch Striche; mochten sie nun über billige oder über teure Leinwände gezogen worden sein. Sie kannte die Unterschiede inzwischen. Konnte auch unterscheiden zwischen Pinselstrichen ohne oder mit Rahmen. Nur, die Faszination hatte nicht ausgereicht um ihn auf seinen zahlreichen Entdeckungsreisen zu begleiten.

Staub setzt sich erst in den Vertiefungen an, hatten sie ihr erklärt. Deshalb waren die Stuckverzierungen in ihrem Salon auch zuerst unansehnlich geworden. Die Maler waren ausnehmend hilfsbereit. Sie stellte ihnen Cafe und Brötchen hin.


*pcf 2011

Am Tresen


Am Tresen

Schon von weitem erkannte er ihre wallenden Locken im dichten Gedränge der Heimkehrer. Er liebte sie - vorbehaltlos! Und lehnten sich ihre blonden Haare noch so vehement gegen jeden Kamm auf, umso attraktiver und anmutiger erschien sie ihm. Ihre Gesichtszüge, wie feines Porzellan Doch, sie auf solche Äusserlichkeiten zu reduzieren, dies wurde ihr nicht gerecht; das hatte sie nicht verdient. Auch nicht, wenn er sie dann und wann als sein Püppchen neckte. Etwas Spass durfte er ihrer Ernsthaftigkeit wohl entgegenhalten. Dankbar schloss er sie in die Arme. Wie sehr sie ihm gefehlt hatte und mochten es wiederum nur die zweieinhalb Tage gewesen sein.

Das hektische sonntägliche Gedränge am Flughafen, dann der immer noch dichte Abendverkehr, als er sie jetzt nach Hause fuhr. Diana, in sich gekehrt, hatte auf seine Fragen ungewohnt einsilbig geantwortet und nur Weniges von ihrem Wochenende preisgegeben. Ihr Vater, offensichtlich machte sich sein vorgerücktes Alter unversehens bemerkbar. Vieles, was ihm noch bis vor kurzem mühelos von der Hand gegangen war, begann ihn über Gebühr zu belasten. Erst wenige Wochen waren vergangen, seit er ihre Eltern zum letzten Mal gesehen hatte. Doch damals war viel Hektik angesagt und von Altersbeschwerden noch kaum die Rede gewesen.

Alle Ampeln schienen ihnen die rote Welle zu zeigen. Erst jetzt, als sie wiederum zu warten hatten, nahm er wahr, dass sie nach langem Unterbruch statt der Linsen erstmals wieder ihre Brille trug. Hatte sie geweint oder war sie schlicht nur müde von der Reise? Denn ihre geröteten Wangen und Augen hatte er bemerkt, gleich als sie sich aus der Menschenmenge gelöst und auf ihn zugetreten war. Waren da auch Tränen gewesen?

Unerwartet rasch fand er eine Parklücke und dies zudem noch in unmittelbarer Nähe ihrer Wohnung. Überraschend, dass sie ihn noch bat kurz zu ihr hoch zu kommen. Meist wollte sie nach der Rückkehr von zu Hause jeweils nur noch schlafen, im Bewusstsein dessen, was die kommende Woche an Herausforderungen für sie bereithalten würde.

Geplagt, verunsichert, vielleicht sogar ängstlich. Kommendes Unheil ahnend? Ihren stumpfen Blick, als sie ihm schliesslich an ihrem schmalen Küchentisch gegenüber sass, er würde ihn nie vergessen und erst Jahre später deuten können. Bang, zögernd und dennoch unmissverständlich sprach sie von ihrer tiefen Frustration. Sie brauche Zeit und Abstand. Ruhe, ja, sie müsse sich über vieles klar werden, auch über ihre mittlerweile langjährige Beziehung. Starr ihr Blick, erschöpft, unbestimmt. Lange erst schwiegen sie. Als sie ihre Tränen nicht mehr zurückhalten konnte, stand sie unvermittelt vom Tisch auf.

Sprachlos erst hatte er ihr zugehört. Die verzweifelte Endgültigkeit ihrer Worte! Da gab es nichts zu diskutieren, gewiss nicht mehr. Zu sehr hatten ihn ihre wohlbedacht vorgebrachten Argumente überrollt und verletzt. Seine hilflosen Erwiderungen hatten sie nicht erreichen können. Er griff nach seinen Schlüsseln, gab ihr einen zaghaften Kuss auf die Stirn. Sie war zweifellos nichts als übermüdet. Endlich wieder einmal zu Hause, da hatte sie mit anzupacken gehabt und sich nicht raushalten können. Mehr als einmal hatte er dies ja schliesslich schon miterlebt.

Seine tröstenden Worte, wozu? Sie gingen ins Leere. Sie hatte sich auf ihrem Bett zur Wand gedreht, weinte nun haltlos. Bereits bei Ihrer Wohnungstür angelangt, hatte er sich nochmals nach ihr umgewandt und sie an ihr Mittagessen erinnert; sie trafen sich montags jeweils in der Nähe ihrer beider Arbeitsplätze. Eine eingespielte Gewohnheit, wozu hatte er sie ausgerechnet jetzt noch daran erinnern müssen? Sicher war er sich später keineswegs, ob sie ihn da überhaupt noch wahrgenommen hatte.

Erst auf der Rückfahrt zu seiner Wohnung wurde ihm die Ausweglosigkeit ihrer so jäh gescheiterten Beziehung vollends bewusst. Obwohl Da gab es nichts, was sie beide so gänzlich unerwartet hätte entzweien sollen. Ihre Frustration seinetwegen, wie sie ihm hatte weis machen wollen und dies ausgerechnet jetzt? All das Gemeinsame, was sie verband, sollte nun plötzlich wertlos sein? Sinnlos seine Fürsorge für sie! Wie hatte er um sie gezittert, als der medizinische Eingriff unumgänglich geworden war. Gefühle, Zuneigung, Liebe, mit Füssen getreten. Bedeutungslos! Warum, weshalb?

Ja, ausgerechnet jetzt! Er hätte sich längst entscheiden sollen. Zu lange hatte er gezögert. Nur drei Mal im Jahr war eine Kündigung seiner Wohnung möglich. Noch blieben ihm zwei Tage um dies endlich zu tun. War er nur nachlässig gewesen? Mit Terminen tat er sich Grundsätzlich schwer. Diana hatte ihn oft deswegen auf die Schippe genommen. Doch war es blosse Schlamperei; oder hatte er allenfalls unbewusst gezögert. Morgen musste er Gewissheit haben. Immer wieder hatte sie gedrängt, er möge doch bei ihr einziehen. Doch, ob dies nach heute Abend, ob dies auch morgen noch galt?

Als hätte sie geahnt, dass er Rat und Trost brauchte, stand seine Wohnungsnachbarin im Treppenhaus.  Eben vom oberen Stockwerk heruntergekommen, schien sie ihn erwartet zu haben. Sie war, wie sie sagte, noch kurz bei ihrer Freundin gewesen. Ja, sie kannten sich doch alle hier, waren Freunde, manche sogar etwas mehr als blosse Freunde, in diesem grossen, offenen Haus.

Nicht gänzlich unerwartet für Chantal, dass es zum Bruch mit Diana gekommen war, hatte kommen müssen. Sie erinnerte ihn sachte an seine eigenen Zweifel während der vergangenen Wochen. Diana und er, sie hatten regen Briefverkehr gepflegt. Damals, bei der Rückkehr jedoch von seinem halbjährigen Studienaufenthalt hatte er erstaunt feststellen müssen, dass Diana entgegen ihrer beider Pläne die Ferienvertretung für eine Kollegin übernommen hatte. Sie hatten doch längst ihre Ferienreise vereinbart. Gemütlich, ohne Ziel, einfach drauflos fahren und sehen wollten sie, wohin es sie verschlagen würde. So hatten sie sich dies jedenfalls vorgestellt und noch vor wenigen Wochen hatte sie in einem ihrer Briefe Vorschläge gemacht, wen sie alles würden besuchen können. Vielleicht noch für einige Tage bei ihren Eltern vorbei zu schauen; auch dies hatten sie erwogen.

Ihre Briefe hatten sich meist sogar gekreuzt, und doch waren die ihren mit den Wochen seltener und nichtssagender geworden. Nicht nur ihre, wohl auch seine. Schliesslich hatte er sich eingestehen müssen, dass er weit weniger mit ihr als mit Chantal korrespondierte. Etwas lief unmerklich schief in ihrer Beziehung.

Wie oft hatte Diana in der Zeit vor seinem Auslandaufenthalt ungefragt noch Freundinnen mit eingeladen und aus einem gemütlichen Abendessen zu zweit war wieder einmal mehr nichts geworden. Ihre Unruhe, ihre Hektik zuweilen - manchmal verstand er die Welt nicht mehr. Dann auch ihre fixe Idee nun endlich über ein eigenes Auto verfügen zu wollen. Wie oft und wie bereitwillig hatte er sie doch immer gefahren oder hatte ihr sein Auto tagelang zur Verfügung gestellt. Und, da gab es noch einiges mehr, was ihm an ihrem Verhalten rätselhaft erschienen war.

Bisher war ihm nicht bewusst gewesen, wie gut Chantal über ihre Beziehung Bescheid zu wissen schien. Doch war sie meist auch gleich zur Stelle, wenn seine kleine Welt wieder einmal aus den Fugen zu brechen drohte. Ja, er hatte sich selbst bloss nie eingestehen wollen, wie eigenartig Diana sich ihm gegenüber mitunter gegeben hatte.

Ihr Mittagessen hatte es zwar noch gegeben. Dann jedoch gab es für die Kündigung seiner Wohnung keinen Anlass mehr.

Es tat unendlich weh!

Doch vieles wurde ihm mit zunehmendem Abstand klarer, vieles, worüber er sich meist nur insgeheim geärgert hatte.

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Wirklich erst im letzten Augenblick hatte er sie bemerkt. Dianas ulkige, immer und zu jeglichen Spässen aufgelegte Freundin. Er hätte sie, als sie ihm in der Bahnhofsunterführung entgegenkam, beinahe überrannt. Zwar hatte er einen Termin, würde jedoch ohne Probleme um Weniges zu spät erscheinen können. Denn sie bestand darauf, mit ihm auf eine Tasse Café ins Restaurant um die Ecke zu gehen. Jetzt gleich und auf der Stelle. Ihre Bestimmtheit überraschte. Sie war nicht wieder zu erkennen, als sie jetzt neben ihm am Tresen stand. Ihr Vorwürfe und Vorhaltungen. Schlag auf Schlag. Sogar von Chantal hatte sie bereits gewusst. Ihre Tasse noch immer halb voll, sie hatte bloss daran genippt. Sie hatte ihn kaum ausreden lassen. Wütend hatte sie schliesslich einige Münzen hingeknallt und war verschwunden, bevor er sich noch eingehender hätte erklären können. Missverständnisse? Und, was hätte er ihr darauf erwidern sollen? Was sie ihm vorgehalten hatte, schien ihm im ersten Augenblick reichlich an den Haaren herbeigezogen. Nein, einer Schuld war er sich nicht bewusst. Diana hatte schliesslich Schluss gemacht. Ihm jetzt noch unbegreiflich warum! Sie war es gewesen, nicht er!

Das verrückte Huhn, als das sie ihm früher erschienen war, originell, ein Spassvogel, eine Frau, der man selten je ein ernsthaftes Wort abringen konnte, jetzt allerdings hätte sie eine Göttin der Rache abgegeben! Als auf sich selbst bezogenen Macho, als keines Mitgefühls fähig, als Diana unwürdig hatte sie ihn bezeichnet. Er war sich nach ihrer Standpauke kaum mehr als sehr männlich vorgekommen. Nachdenklich bahnte er sich seinen Weg durch die gesichtslose Menschenmenge. Hatten ihm vielleicht seine eigene Verunsicherung, seine Angst vor Verlust, sogar Eifersucht eine Falle bereitet, in welche er offenen Auges gelaufen war? Dianas Frustration? Hatte er sie zu sehr vereinnahmt, sie mit seiner Fürsorge sogar bedrängt, ihr zu wenig Freiraum, zu wenig Luft zum Atmen gelassen? Wusste sie überhaupt, was sie wollte? Hatte nicht sie sogar auf eine gemeinsame Wohnung gedrängt? Vage Ahnung erst und schliesslich Besorgnis, nagende Ungewissheit letztlich, welche ihn wegen dieser unerwarteten Vorwürfe nun bedrängten!

Ihre Frustration, welche da zwischen ihnen stehen sollte? Hatte er Diana denn nie nach den Gründen gefragt? Damals nicht und auch später nicht? Warum auch hatte er sich nie mehr nach ihr erkundigt? Sie wollte es so, musste ihre Gründe gehabt haben. Selbstbewusst und überzeugt, wie er sie kannte! Ihr Entschluss, einmal getroffen, war und blieb unabänderlich. Wie er sie zu kennen glaubte?

Er hatte es tun müssen, lieber heute als morgen! Ein Wisch mit einem unverbindlichen Gruss. Nachdem er die wenigen Erinnerungen und Geschenke der letzten Jahre in einer Tasche vor ihrer Wohnungstüre abgestellt hatte, war für ihn die Beziehung endgültig Vergangenheit gewesen. Endgültig! War sie das? Abgeschlossen, aber auch erledigt? War sie es für ihn, erledigt, und wie stand es in Wirklichkeit um sie? Danach hatte er sie nie gefragt. Nie, wozu auch? Zu eindeutig für ihn; ihre Beziehung hatte keine Chance mehr, war zweifellos von Anfang weg ohne Aussicht auf eine gemeinsame Zukunft gewesen. Viel zu spät hatte er es erkannt. Nur, wie hätte er dies in seiner damaligen Verliebtheit auch nur ahnen können.

Erledigt? War er sich da so sicher, auch jetzt noch? Warum denn musste er sich all die Ungereimtheiten in Dianas Verhalten wieder und wieder vor Augen führen? Musste er sich damit nicht eher selbst bestätigen, dass sie beide keine Zukunft mehr gehabt hätten? Waren seine ungeduldigen Vorbehalte gegenüber Diana nicht Spiegelbilder seiner eigenen Unsicherheit. Gelegentlich konnte er sich jetzt des flüchtigen Gedankens nicht erwehren über seinen eigenen Stolz, seine Verletzung gestolpert zu sein, unfähig sie zu verstehen.

Waren es schliesslich nicht meist schon banalste Erinnerungen, die nun keinen Sinn mehr machten, die ihn aber immer zurückwarfen? Noch und noch und immer wieder waren es bereits unbedeutende Kleinigkeiten, welche ihn unweigerlich dazu brachten sich an alles Gewesene, an sie zu erinnern.

Seine unsinnigen Bedenken! Ganz so unsinnig wohl auch wieder nicht, denn er liebte sie, noch immer. In diesem Punkt, da gab es für ihn keine Zweifel. Selten aber erlaubte er sich solcher Erkenntnis auch ernsthaft nachzuhängen.

Wochen, Monate, mehr als ein Jahr waren seit dem unglücklichen Zusammentreffen mit Dianas Freundin vergangen. Als er damals in die Wohnung zurückgekommen war, standen Chantals Koffer zur Abreise bereit. Ihm war erst da wieder eingefallen, dass sie zu einer Weiterbildung wegfahren musste. Eine Woche! Und er würde, auf sich allein gestellt, all seiner unsinnigen Bangigkeit nicht ausweichen können. Wenigstens würde Chantal ihn nicht nach Gründen für seine unfassbare Zerstreutheit befragen.

Nach dieser einen Woche ohne Chantal ging es ihm vergleichsweise gut. Er hatte seine depressive Nachdenklichkeit weit hinter sich gelassen, freute sich auf Chantals Heimkehr. Wie er sich immer auf sie freute. Er liebte sie, vorbehaltlos. Hatte dies vielleicht schon getan, als Diana für ihn noch sein Ein und Alles war. Er hatte seine neue Wohnungsnachbarin sofort gemocht, als sie kurz nach seinem Einzug mit einer Flasche Sekt in seiner Türe gestanden hatte. Ein unverbindlicher Willkommensgruss. Sie hatten die Flasche sogleich geöffnet. Wäre seine Liebe zu Diana wirklich tragfähig gewesen? Aber was, wenn er ihr immer noch verfallen war? Und Chantal? Hatte Liebe ausschliesslich zu sein oder konnte man seine Liebe teilen? War Liebe zwingend monogam, oder hatte auch eine zweite Beziehung noch ihre Berechtigung? Würde er sich je ganz von Diana lösen können, so wichtig und unersetzlich Chantal ihm auch geworden war?

Als sein bester Freund, ausgerechnet er, ihm Dianas die wenigen Überbleibsel und Erinnerungen gebracht hatte, war sie für ihn endgültig Vergangenheit gewesen. Wie ihm damals schien. Galt das auch heute noch?

Abgeschlossen, aber auch erledigt? Warum erlaubte er sich jetzt noch an der Endgültigkeit zu zweifeln?

Chantal war in sein Leben getreten. Die einstige Wohnungsnachbarin, jetzt lebte sie mit ihm zusammen. Die uneingeschränkte Liebe, welche sie ihm entgegenbrachte, liessen ihm keinen Raum mehr weiter seinem sinnlosen Zweifeln nachzuhängen. Sie stand mit beiden Beinen im Leben, hatte klare Vorstellungen ihrer beider Zukunft und war im Begriff diese auch durchzusetzen. Auch er war sich seiner Liebe für sie sicher.

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Er wusste es, spürte es nun mit Bestimmtheit; sie war unter diesen vielen Wartenden an der Tramhaltestelle. Nur, er konnte Diana erst nicht erspähen. Doch dann trat sie auf ihn zu. Unvermittelt. Bang, als bitte sie um Verzeihung, als flehe sie um Verständnis. Jetzt wieder ihr fragender, ängstlicher Blick. Er ging ihm durch Mark und Bein. Sein hilfloses Entsetzen - wie damals! Er war aufgeschreckt, mitten aus tiefstem Schlaf,  war dann aber bald wieder in seinen bleiernen Schlaf abgetaucht. Es war ihre Hand, welche sich ihm da zwischen den Bettlacken entgegenstreckte. Konnte man an einem verlorenen Traum denn wieder anknüpfen, auch wenn man zwischenzeitlich wach geworden war? War es überhaupt möglich im Traum über Träume nachzusinnen? Wie nur konnte er die eine Liebe endlich vergessen, welche längst Vergangenheit war? Das Meeting damals, mit Freunden. Er wusste mit Bestimmtheit, dass Diana ebenfalls kommen würde. Schliesslich sagte ihm jemand, viele Eisenbahnzüge seien wegen übermässigen Schneefalls ausgefallen, sie würde es wohl nicht mehr schaffen. .

Bloss Träume! An manche konnte er sich nach Jahren noch in allen Einzelheiten erinnern, als wären sie gelebte Realität gewesen. Andere hatte er vergessen, kaum war er aus ihnen erwacht.

Sein Traum heute Nacht, er ging ihm unter die Haut. Er hielt ihn umklammert, als wäre Geträumtes Erlebtes;. Er konnte sich ihm den ganzen Tag nicht entziehen. Immer wieder waren die Schemen der Nacht da, begleiteten ihn überall hin, ihr unerklärlicher Blick, ihre suchende Hand im Traum, seine geträumte Enttäuschung über ihr Ausbleiben. Ihr wortloses Bitten, vielleicht ihre hilflose Hoffnung auf eine Aussprache, die es nie mehr geben sollte.

Mit Mühe bloss konnte er sich auf all das konzentrieren, was vor ihrer morgendlichen Ziviltrauung noch zu erledigen war. Panisch seine Angst, Entscheidendes oder auch nur die oder jene für Chantal so ungemein wichtig scheinende Kleinigkeit zu vergessen.

Morgen also und nur im kleinsten Kreis ihrer unmittelbaren Angehörigen und engsten Freunde! Die eigentliche Hochzeitsfeier, diese war für den Sommer vorgesehen. Sie wollten dann mit all ihren gemeinsamen Bekannten im Seerestaurant ausgiebig feiern. Davon hatte Chantal schon immer geträumt. Und dennoch war da ein Zögern gewesen. Grundlos! Den Gedanken an eine Heirat hatte sie immer wieder von sich geschoben, so sehr er auch in sie gedrängt hatte. Erst das heranwachsende neue Leben, hatte sie vom Sinn einer Eheschliessung wirklich überzeugen können. Ihre Alexandra jedenfalls würde an ihrer Hochzeit mit dabei sein, würde sich aber später niemals des glücklichsten Tages ihrer Eltern erinnern können. Doch da würde es ja Fotos und Filme geben.

Blosse drei Zeilen, höflich, nichtssagend, unverbindlich. Vergeblich hatte er zwischen ihnen zu lesen versucht. Dianas Glückwunschkarte war termingerecht eingetroffen, keinen Tag zu früh!

Und? Ach ja, übrigens! Alexandra würde seinen Namen tragen und zweifellos die wilde schwarze Haarpracht ihrer Mutter.



*pcf 2011