Verwirrt blickte sie von
ihren Notizen auf.
Rechter Hand die grossartige
Sicht auf das Panorama der nahen Alpen. Im Dachgeschoss hatte sie sich,
bald nachdem sie zu arbeiten begonnen hatte, ihr Arbeitszimmer eingerichtet,
ihre eigene Welt. War sie in die Arbeit vertieft, duldete sie weder Ehemann noch Sohn um
sich. Wehe, wenn jemand ihre Aufzeichnungen auch nur anrührte. Gleichermaßen
erachtete sie das gelegentliche Abstauben und Ordnung machen als ausschliesslich
ihre Aufgabe. Ihre Wirtschafterin hatte nur einmal versucht ihr an die Hand zu gehen.
Unmittelbar zu ihren Füssen der beinahe noch winterliche See. Nebelfetzen, welche der
Sonne bisher widerstanden hatten. Nur zwei Segelboote waren auf der weiten
silbernen Fläche auszumachen. Die Linienschiffe würden erst im späteren Frühjahr wieder
beginnen ihre endlosen Runden zu drehen. Manchmal zog sie sogar die Vorhänge um nicht
abgelenkt zu werden.
Und jetzt war an ein
Weiterschreiben nicht zu denken. Verwirrt trug sie Datum und Zeit in ihren Kalender ein. Im
Buffet de la Gare würden sie sich treffen. Fantasielos aber logisch, wenn er, wie er
sagte, auf der Durchreise war. Einige Fragen habe er zu ihrer Tante, zu weiteren
Verwandten, zu ihr selbst. An die vierzig Jahre hatten sie nichts mehr voneinander gehört.
Nicht einmal die Adresse hatte sie ihm damals nach ihrer Rückkehr aus den Vereinigten
Staaten angegeben. Ihm, einem schon beinahe vergessenen Jugendfreund?
Wozu auch? Ihr Briefwechsel war nach wenigen Wochen bereits eingeschlafen; worüber hätten sie sich auch
schreiben sollen? Sie genoss ihr neues Leben in vollen Zügen,
nahm begierig alles Fremde, Neue in sich
auf, hatte bald einen Kreis neuer
unterhaltsamer attraktiver Verehrer um sich geschart. Doch ganz freiwillig hatte sie ihre
Reise nicht angetreten. Mit ihrer Mutter war sie dauernd am Streiten. Dieses lockere
Leben, wie sie es nannte, hatte sie ihr nicht gegönnt. Schliesslich hatte ihr Vater
eingewilligt sie bei sich aufzunehmen.
Bald jedoch hatte es sie hinüber an die Westküste
gezogen. Ihre ausgefallene Studienrichtung hatte bloss als billiger Vorwand
herhalten müssen. Ihr Vater hatte sie durchschaut, aber schliesslich nachgegeben, war
er doch mit seiner eigenwilligen Tochter genau so wenig klar gekommen.
Jahre später, bald nach ihrer
Rückkehr, da hatte sie tatsächlich Gefallen an dem blitzgescheiten und
strebsamen Physiker gefunden. Doch, so viele Zufälle hatte es gar nicht geben können; ihre
Hochzeit war arrangiert worden, da machte sie sich nichts vor. Ihre beiden Familien
jedenfalls waren sich einig und waren glücklich über die möglich gewordene Zusammenführung
ihrer Güter - sie alleinige Erbin und er vom Schicksal ebenso begnadet. Die Zeit vor
der Hochzeit war konfus verlaufen, zu turbulent, als dass sie sich der Humorlosigkeit
und Langweiligkeit ihres Künftigen beizeiten hätte bewusst werden können. Schon bald
nach der Geburt ihres Sohnes hatten sie sich einvernehmlich arrangiert.
Sie hielt sich nicht im Geringsten an eheliche Konventionen. Er war im Gegenzug
wochenweise auf Geschäftsreisen und machte keinen Hehl aus seinen finsteren Neigungen.
Thomas wollte sie sehen!
Dunkel nur erinnerte sie sich an ihn. Während ihrer Schulferien, als kleines
Mädchen schon, schob man sie regelmässig zu ihrer Tante in dieses gottverlassene Dorf
ab. Niemand hatte jemals wirklich Zeit für sie gefunden, auch als ihr Vater noch lange
nicht das Weite gesucht hatte. Mit ihrer Tante kam sie gut zu Recht. Diese war kinderlos
geblieben und nahm ihre Nichte bereitwillig auf, war stolz auf das aufgeweckte hübsche
Mädchen. Thomas, der grosse, schlanke Junge im Nachbarhaus war ein
verträumter Schwärmer gewesen. Eine unschuldige Jugendfreundschaft hatte sich
ergeben. Wenn er mehr darin gesehen hatte, so war das sein Problem gewesen, nicht
ihres.
Das Treffen war ganz anders
verlaufen, als sie sich dies vorgestellt hatte! Natürlich hätte sie ihn ohne die
vereinbarte Tageszeitung auf seinem Tisch nicht erkannt. Thomas entpuppte sich als
charmanter Gesprächspartner, war zuvorkommend, interessierte sich für sie
und… Er schien von ihr angetan und sparte nicht mit Komplimenten. Ein erfahrener,
interessanter Mann, einnehmend; spannend
sich mit ihm zu unterhalten. Der
Nachmittag verging im Flug.
Keine zwei Wochen später
schlug er ihr eine weitere Begegnung vor, erst ein Spaziergang dem See entlang
und dann ein gemütliches Abendessen. Ihr Sohn war im Skilager; also würde ihre
Abwesenheit niemanden stören.
Danach sein Urlaub, mit
Familie, wie er auffällig deutlich betont hatte. Gleich nach seiner Rückkehr dann dennoch
der mehr als aufschlussreiche Vorschlag für ein Wiedersehen, diesmal in dem
romantischen Hotel, gelegen auf markanter Anhöhe über dem See. Und da bereits gab
es für sie keine Zweifel mehr. Sie hatte ihn richtig eingeschätzt und hatte sich,
kaum der letzten Affäre entronnen, soeben in der nächsten verfangen. Die
Ernsthaftigkeit, mit der er die Sache anging, hatte sie verblüfft und erregt. Dabei hätte sie es
gleich schon zu Beginn besser wissen müssen; weit mehr war Thomas als ein Träumer! In
dieser Beziehung hatte er sich wohl nicht verändert. Er war anspruchsvoll, gab sich nicht
mit Alltäglichem zufrieden. Als sie entzückt sein Mitbringsel öffnete, war für
sie auch gleich klar, wohin seine Neigungen zielten. Hatte sie sich in den vergangenen
Jahren zunehmend mit flüchtigen Begegnungen zufrieden gegeben, welche eher
One-Night-Stands gleich kamen, verstrickte sie sich nun in eine Beziehung, welche versprach,
sie endlich wieder in ungeahnte Höhen und Tiefen zu entführen.
Seine vagen Schilderungen, er
sprach zwar beharrlich mit Ehrfurcht und Hochachtung von seiner Ehefrau,
überzeugten sie bald, dass ihr von dieser Seite keine Konkurrenz erwachsen würde. Wollte er
tatsächlich wieder an ihre gemeinsame Jugend anknüpfen? Er war verliebt
wie ein kleiner Junge. Sie mochte ihn durchaus, erhoffte sich willkommene Abwechslung
und Inspiration, denn mit ihrer Schreiberei war sie eben an einem Tiefpunkt angelangt.
Sie freute sich auf seine Anrufe und nahm seine immer neuen übermütigen Vorschläge
dankbar an. War er wieder weg, ging sie jeweils zügig zur Tagesordnung über.
Undankbar war sie nicht und sie liess ihn auch nie leer ausgehen, wusste zu gut was
Männer von ihr wollten. Das Eine, was sie schon immer von ihr gewollt hatten. Ihr
sollte es recht sein; sie hielt sich auf ihre Weise schadlos. Früh bereits hatte sie lernen
müssen, dass es ihr offenbar bestimmt war fortwährend über ihre eigene
Attraktivität zu stolpern und dass man von ihr kaum je mehr erwartete. Nicht von ungefähr war sie in
ihren Jugendjahren bisweilen ungeniessbar gewesen. Dankbar floh sie nach USA,
nur weit weg von den ihr lästig gewordenen Verehrern!
***
Drei gemeinsame Tage wiederum
in diesem altehrwürdigen Hotel am See hatten sie geplant. Sie griff zum
Telefon, stornierte kurz entschlossen die Zimmerbuchung und vergewisserte sich, dass die
Eintragung im Belegungsplan auch
sogleich unkenntlich gemacht werden würde. Niemand
sollte sich ihrer abgesagten Reservation mehr erinnern, wenn er sie eine
Woche später bei seiner Ankunft vermissen und sich besorgt nach ihrem Verbleib
erkundigen würde. Wie immer, vorsichtig, wie sie waren, hatten sie ihre Zimmer getrennt
reservieren lassen.
Wie hätte sie jetzt auch mit
ihm Kontakt aufnehmen und ihn auf ein späteres Wochenende vertrösten sollen?
Er hauste mit seinen Freunden in einer abgelegenen Alphütte. Ein bis zwei Male
im Jahr gingen sie für eine Woche wandern und überboten sich dabei gegenseitig mit
ihren Kochkünsten. Seit einiger Zeit nutzte er diese kostbaren Gelegenheiten
allerdings auch um mit ihr zusammen zu sein. Er stiess jeweils später zu seinen
Freunden oder verabschiedete sich früher von ihnen.
Diesmal aber würde sie ihn
versetzen.
Alles war bereits geklärt,
seit zwei Wochen hatte sie ihren Vertrag als Redaktorin und Moderatorin einer
periodischen Literaturrunde im regionalen Fernsehen in der Tasche. Über Ziele ihres Auftrags, über
Konzept, Umfang und Budget bestand Einigkeit. Schon mehrfach hatte sie ähnliche
Aufgaben übernommen. Der Programmdirektor hatte jedoch auf diesem
verlängerten Wochenende bestanden. Es war beileibe nicht ihr Vorschlag gewesen. Er wollte
mit ihr das Konzept in allen Einzelheiten durchgehen. Sie hatte spontan zugesagt, wohl
wissend, dass es keine Möglichkeit gäbe Thomas vorgängig zu informieren.
Elektrizität und Telefonanschluss gab es nicht in dieser Alphütte. Mobile Telefonie
war noch nicht erfunden worden.
Alf, den Programmdirektor
kannte sie schon seit vielen Jahren flüchtig. Eine spannende Persönlichkeit mit weit
gestreuten Beziehungen! Schwärmte sie für ihn? Als seine Sekretärin mit ihr den Termin
vereinbart hatte, war für sie gleich fest gestanden, dass sie beileibe nicht das ganze
Wochenende ausschliesslich für ihre Konzeptdiskussion brauchen würden.
Was erwartete sie eigentlich
noch von Thomas. Seit sieben Jahren zog sich ihre Amour-Fou nun schon hin. Ihr
kecker Vorschlag damals in Venedig hatte ihn zwar mehr beschäftigt, als sie erwartet
hatte. Geschwärmt hatten sie von einem Häuschen, versteckt in einem Pinienhain
irgendwo auf einer Insel im griechischen Archipel, fernab aller Verpflichtungen und
losgesagt von ihren beiden Familien! Ihr gefiel diese frivole Vorstellung, doch durchschaut
hatte sie ihn sogleich. Nie würde er ausbrechen und seine Ehefrau verlassen. Die
Reise nach Venedig allerdings hatte einen bitteren Nachgeschmack hinterlassen.
Seine Frau wunderte sich ausserordentlich über seinen herrlich gebräunten Körper,
hatte doch im Wandergebiet, wo er angeblich mit seinen Freunden ausharrte,
ausschliesslich miserables Wetter geherrscht. Etwas hatte sich verändert! Sprach sie Thomas
später auf ihre Vision von Griechenland an, wich er ihr aus. Was hatte sie anderes
erwartet? Die Affäre, von welcher sie sich in den Anfängen deutlich mehr versprochen
hatte, begann sie zu langweilen. Nun aber taten sich für sie zweifellos andere Chancen
auf!
Zu einer Tageszeit, wo er sie
allein zu erreichen hoffte, rief Thomas an, machte seinem Ärger über das verpfuschte
Wochenende Luft. Sie zeigte sich überrascht. Sie habe, gab sie ihm scheinheilig zu
verstehen, ebenfalls vergeblich in dem Hotel auf der gegenüberliegenden Seeseite,
das sie beide ja ebenfalls bestens kannten, auf ihn gewartet. Wo er geblieben
sei? Ihr Fehler? Er liess sie nicht argumentieren, sondern warf ihr verdrossen vor nicht
nur ihre Termine, nein auch ihr ganzes Leben nicht im Griff zu haben. Sie liess ihn
reden, hängte schliesslich auf. Er konnte sogar seine Wut
kommunizieren; dies hätte sie
so gar nicht erwartet.
Alf hatte ihre Hoffnungen
nicht enttäuscht und er war derzeit nicht einmal gebunden, hatte keine Verpflichtungen.
Dies wusste sie von einer gemeinsamen Bekannten.
Der Brief erreichte sie nur
wenige Tage später. Billig und lächerlich Peinlich genug! Kaum zu glauben! Thomas Frau
hatte die Quittung für Hotelübernachtungen gefunden, zu der es nichts mehr zu
erklären, wohl aber vieles zu beichten gab. Das mit dem Einzelzimmer hatte sie ihm
nicht abgenommen. Offensichtlich hatte sie das Unheil längst geahnt.
*pcf 2012