Sonntag, 12. Februar 2012

Griechische Inseln (Teil 2)


 
Verwirrt blickte sie von ihren Notizen auf.

Rechter Hand die grossartige Sicht auf das Panorama der nahen Alpen. Im Dachgeschoss hatte sie sich, bald nachdem sie zu arbeiten begonnen hatte, ihr Arbeitszimmer eingerichtet, ihre eigene Welt. War sie in die Arbeit vertieft, duldete sie weder Ehemann noch Sohn um sich. Wehe, wenn jemand ihre Aufzeichnungen auch nur anrührte. Gleichermaßen erachtete sie das gelegentliche Abstauben und Ordnung machen als ausschliesslich ihre Aufgabe. Ihre Wirtschafterin hatte nur einmal versucht ihr an die Hand zu gehen. Unmittelbar zu ihren Füssen der beinahe noch winterliche See. Nebelfetzen, welche der Sonne bisher widerstanden hatten. Nur zwei Segelboote waren auf der weiten silbernen Fläche auszumachen. Die Linienschiffe würden erst im späteren Frühjahr wieder beginnen ihre endlosen Runden zu drehen. Manchmal zog sie sogar die Vorhänge um nicht abgelenkt zu werden.

Und jetzt war an ein Weiterschreiben nicht zu denken. Verwirrt trug sie Datum und Zeit in ihren Kalender ein. Im Buffet de la Gare würden sie sich treffen. Fantasielos aber logisch, wenn er, wie er sagte, auf der Durchreise war. Einige Fragen habe er zu ihrer Tante, zu weiteren Verwandten, zu ihr selbst. An die vierzig Jahre hatten sie nichts mehr voneinander gehört. Nicht einmal die Adresse hatte sie ihm damals nach ihrer Rückkehr aus den Vereinigten Staaten angegeben. Ihm, einem schon beinahe vergessenen Jugendfreund? Wozu auch? Ihr Briefwechsel war nach wenigen Wochen bereits eingeschlafen; worüber hätten sie sich auch schreiben sollen? Sie genoss ihr neues Leben in vollen Zügen, nahm begierig  alles Fremde, Neue in sich auf, hatte bald einen Kreis neuer unterhaltsamer attraktiver Verehrer um sich geschart. Doch ganz freiwillig hatte sie ihre Reise nicht angetreten. Mit ihrer Mutter war sie dauernd am Streiten. Dieses lockere Leben, wie sie es nannte, hatte sie ihr nicht gegönnt. Schliesslich hatte ihr Vater eingewilligt sie bei sich aufzunehmen.  Bald jedoch hatte es sie hinüber an die Westküste gezogen. Ihre ausgefallene Studienrichtung hatte bloss als billiger Vorwand herhalten müssen. Ihr Vater hatte sie durchschaut, aber schliesslich nachgegeben, war er doch mit seiner eigenwilligen Tochter genau so wenig klar gekommen.

Jahre später, bald nach ihrer Rückkehr, da hatte sie tatsächlich Gefallen an dem blitzgescheiten und strebsamen Physiker gefunden. Doch, so viele Zufälle hatte es gar nicht geben können; ihre Hochzeit war arrangiert worden, da machte sie sich nichts vor. Ihre beiden Familien jedenfalls waren sich einig und waren glücklich über die möglich gewordene Zusammenführung ihrer Güter - sie alleinige Erbin und er vom Schicksal ebenso begnadet. Die Zeit vor der Hochzeit war konfus verlaufen, zu turbulent, als dass sie sich der Humorlosigkeit und Langweiligkeit ihres Künftigen beizeiten hätte bewusst werden können. Schon bald nach der Geburt ihres Sohnes hatten sie sich einvernehmlich arrangiert. Sie hielt sich nicht im Geringsten an eheliche Konventionen. Er war im Gegenzug wochenweise auf Geschäftsreisen und machte keinen Hehl aus seinen finsteren Neigungen.

Thomas wollte sie sehen! Dunkel nur erinnerte sie sich an ihn. Während ihrer Schulferien, als kleines Mädchen schon, schob man sie regelmässig zu ihrer Tante in dieses gottverlassene Dorf ab. Niemand hatte jemals wirklich Zeit für sie gefunden, auch als ihr Vater noch lange nicht das Weite gesucht hatte. Mit ihrer Tante kam sie gut zu Recht. Diese war kinderlos geblieben und nahm ihre Nichte bereitwillig auf, war stolz auf das aufgeweckte hübsche Mädchen. Thomas, der grosse, schlanke Junge im Nachbarhaus war ein verträumter Schwärmer gewesen. Eine unschuldige Jugendfreundschaft hatte sich ergeben. Wenn er mehr darin gesehen hatte, so war das sein Problem gewesen, nicht ihres.

Das Treffen war ganz anders verlaufen, als sie sich dies vorgestellt hatte! Natürlich hätte sie ihn ohne die vereinbarte Tageszeitung auf seinem Tisch nicht erkannt. Thomas entpuppte sich als charmanter Gesprächspartner, war zuvorkommend, interessierte sich für sie und… Er schien von ihr angetan und sparte nicht mit Komplimenten. Ein erfahrener, interessanter  Mann, einnehmend; spannend sich mit ihm zu unterhalten. Der Nachmittag verging im Flug.

Keine zwei Wochen später schlug er ihr eine weitere Begegnung vor, erst ein Spaziergang dem See entlang und dann ein gemütliches Abendessen. Ihr Sohn war im Skilager; also würde ihre Abwesenheit niemanden stören.

Danach sein Urlaub, mit Familie, wie er auffällig deutlich betont hatte. Gleich nach seiner Rückkehr dann dennoch der mehr als aufschlussreiche Vorschlag für ein Wiedersehen, diesmal in dem romantischen Hotel, gelegen auf markanter Anhöhe über dem See. Und da bereits gab es für sie  keine Zweifel mehr. Sie hatte ihn richtig eingeschätzt und hatte sich, kaum der letzten Affäre entronnen, soeben in der nächsten verfangen. Die Ernsthaftigkeit, mit der er die Sache anging, hatte sie verblüfft und erregt. Dabei hätte sie es gleich schon zu Beginn besser wissen müssen; weit mehr war Thomas als ein Träumer! In dieser Beziehung hatte er sich wohl nicht verändert. Er war anspruchsvoll, gab sich nicht mit Alltäglichem zufrieden. Als sie entzückt sein Mitbringsel öffnete, war für sie auch gleich klar, wohin seine Neigungen zielten. Hatte sie sich in den vergangenen Jahren zunehmend mit flüchtigen Begegnungen zufrieden gegeben, welche eher One-Night-Stands gleich kamen, verstrickte sie sich nun in eine Beziehung, welche versprach, sie endlich wieder in ungeahnte Höhen und Tiefen zu entführen.

Seine vagen Schilderungen, er sprach zwar beharrlich mit Ehrfurcht und Hochachtung von seiner Ehefrau, überzeugten sie bald, dass ihr von dieser Seite keine Konkurrenz erwachsen würde. Wollte er tatsächlich wieder an ihre gemeinsame Jugend anknüpfen? Er war verliebt wie ein kleiner Junge. Sie mochte ihn durchaus, erhoffte sich willkommene Abwechslung und Inspiration, denn mit ihrer Schreiberei war sie eben an einem Tiefpunkt angelangt. Sie freute sich auf seine Anrufe und nahm seine immer neuen übermütigen Vorschläge dankbar an. War er wieder weg, ging sie jeweils zügig zur Tagesordnung über. Undankbar war sie nicht und sie liess ihn auch nie leer ausgehen, wusste zu gut was Männer von ihr wollten. Das Eine, was sie schon immer von ihr gewollt hatten. Ihr sollte es recht sein; sie hielt sich auf ihre Weise schadlos. Früh bereits hatte sie lernen müssen, dass es ihr offenbar bestimmt war fortwährend über ihre eigene Attraktivität zu stolpern und dass man von ihr kaum je mehr erwartete. Nicht von ungefähr war sie in ihren Jugendjahren bisweilen ungeniessbar gewesen. Dankbar floh sie nach USA, nur weit weg von den ihr lästig gewordenen Verehrern!

***

Drei gemeinsame Tage wiederum in diesem altehrwürdigen Hotel am See hatten sie geplant. Sie griff zum Telefon, stornierte kurz entschlossen die Zimmerbuchung und vergewisserte sich, dass die Eintragung im Belegungsplan auch  sogleich unkenntlich gemacht werden würde. Niemand sollte sich ihrer abgesagten Reservation mehr erinnern, wenn er sie eine Woche später bei seiner Ankunft vermissen und sich besorgt nach ihrem Verbleib erkundigen würde. Wie immer, vorsichtig, wie sie waren, hatten sie ihre Zimmer getrennt reservieren lassen.

Wie hätte sie jetzt auch mit ihm Kontakt aufnehmen und ihn auf ein späteres Wochenende vertrösten sollen? Er hauste mit seinen Freunden in einer abgelegenen Alphütte. Ein bis zwei Male im Jahr gingen sie für eine Woche wandern und überboten sich dabei gegenseitig mit ihren Kochkünsten. Seit einiger Zeit nutzte er diese kostbaren Gelegenheiten allerdings auch um mit ihr zusammen zu sein. Er stiess jeweils später zu seinen Freunden oder verabschiedete sich früher von ihnen.

Diesmal aber würde sie ihn versetzen.

Alles war bereits geklärt, seit zwei Wochen hatte sie ihren Vertrag als Redaktorin und Moderatorin einer periodischen Literaturrunde im regionalen Fernsehen in der Tasche. Über Ziele ihres Auftrags, über Konzept, Umfang und Budget bestand Einigkeit. Schon mehrfach hatte sie ähnliche Aufgaben übernommen. Der Programmdirektor hatte jedoch auf diesem verlängerten Wochenende bestanden. Es war beileibe nicht ihr Vorschlag gewesen. Er wollte mit ihr das Konzept in allen Einzelheiten durchgehen. Sie hatte spontan zugesagt, wohl wissend, dass es keine Möglichkeit gäbe Thomas vorgängig zu informieren. Elektrizität und Telefonanschluss gab es nicht in dieser Alphütte. Mobile Telefonie war noch nicht erfunden worden.

Alf, den Programmdirektor kannte sie schon seit vielen Jahren flüchtig. Eine spannende Persönlichkeit mit weit gestreuten Beziehungen! Schwärmte sie für ihn? Als seine Sekretärin mit ihr den Termin vereinbart hatte, war für sie gleich fest gestanden, dass sie beileibe nicht das ganze Wochenende ausschliesslich für ihre Konzeptdiskussion brauchen würden.

Was erwartete sie eigentlich noch von Thomas. Seit sieben Jahren zog sich ihre Amour-Fou nun schon hin. Ihr kecker Vorschlag damals in Venedig hatte ihn zwar mehr beschäftigt, als sie erwartet hatte. Geschwärmt hatten sie von einem Häuschen, versteckt in einem Pinienhain irgendwo auf einer Insel im griechischen Archipel, fernab aller Verpflichtungen und losgesagt von ihren beiden Familien! Ihr gefiel diese frivole Vorstellung, doch durchschaut hatte sie ihn sogleich. Nie würde er ausbrechen und seine Ehefrau verlassen. Die Reise nach Venedig allerdings hatte einen bitteren Nachgeschmack hinterlassen. Seine Frau wunderte sich ausserordentlich über seinen herrlich gebräunten Körper, hatte doch im Wandergebiet, wo er angeblich mit seinen Freunden ausharrte, ausschliesslich miserables Wetter geherrscht. Etwas hatte sich verändert! Sprach sie Thomas später auf ihre Vision von Griechenland an, wich er ihr aus. Was hatte sie anderes erwartet? Die Affäre, von welcher sie sich in den Anfängen deutlich mehr versprochen hatte, begann sie zu langweilen. Nun aber taten sich für sie zweifellos andere Chancen auf!

Zu einer Tageszeit, wo er sie allein zu erreichen hoffte, rief Thomas an, machte seinem Ärger über das verpfuschte Wochenende Luft. Sie zeigte sich überrascht. Sie habe, gab sie ihm scheinheilig zu verstehen, ebenfalls vergeblich in dem Hotel auf der gegenüberliegenden Seeseite, das sie beide ja ebenfalls bestens kannten, auf ihn gewartet. Wo er geblieben sei? Ihr Fehler? Er liess sie nicht argumentieren, sondern warf ihr verdrossen vor nicht nur ihre Termine, nein auch ihr ganzes Leben nicht im Griff zu haben. Sie liess ihn reden, hängte schliesslich auf. Er konnte sogar seine Wut
kommunizieren; dies hätte sie so gar nicht erwartet.

Alf hatte ihre Hoffnungen nicht enttäuscht und er war derzeit nicht einmal gebunden, hatte keine Verpflichtungen. Dies wusste sie von einer gemeinsamen Bekannten.

Der Brief erreichte sie nur wenige Tage später. Billig und lächerlich Peinlich genug! Kaum zu glauben! Thomas Frau hatte die Quittung für Hotelübernachtungen gefunden, zu der es nichts mehr zu erklären, wohl aber vieles zu beichten gab. Das mit dem Einzelzimmer hatte sie ihm nicht abgenommen. Offensichtlich hatte sie das Unheil längst geahnt.




*pcf 2012

Griechische Inseln (Teil 1)


 
Er bog von der viel befahrenen Hauptstrasse in die schmale Privatstrasse ein. Gesäumt von weit ausladenden Bäumen führte sie zum alten, schlossähnlichen Anwesen, auch dieses umrahmt von mächtigen Bäumen. Kurz vor dem Hotel schliesslich ging links die Zufahrt zum Parkplatz ab. Ein Freitagabend in der zweiten Hälfte Juni, da hätte er mehr Gäste, mehr parkierende Autos erwartet. Er zog den Schlüssel ab, ging zum Kofferraum um sein Weniges an Gepäck auszuladen. Genau hatte er nicht gewusst, wann er losfahren würde.

Dass ihr Wagen noch nicht da war, fiel ihm sofort auf, störte ihn aber nicht, ja erleichterte ihn sogar. Das Zimmer beziehen, nach der mühsamen Herfahrt noch ein bisschen frische Luft schnappen, dies behagte ihm; darauf hatte er sich geradezu gefreut. Am Telefon hatte sie etwas von einer Sportveranstaltung ihres Sohnes gesagt.  Auf das gemeinsame Nachtessen jedoch, da freue sie sich und würde das auch spielend schaffen. Sie hatte nahezu gleich weit zu fahren, kam aus der Gegenrichtung, kannte Strecke und Tücken des Feierabendverkehrs bestens.

Ein Hotelangestellter nahm ihm die Tasche ab und führte ihn zur Rezeption. Man kannte ihn. Er liebte dieses Traditionshaus, den charmanten, zurückhaltenden Luxus. Wie oft war er schon hier gewesen, mit Kunden, mit seiner Frau, gelegentlich, wenn es sich auf der Fahrt in den Urlaub ergab, auch mit Sohn und Tochter. Dreimal auch mit Claudine. Getrennte Zimmer, anders ging es nicht. Ihre ungestüme Begrüssung in dem einen, die Nacht im andern, so hatten sie es meist gehalten. Den Betten hatte man am nächsten Morgen jeweils ihre durchtriebene Strategie nicht ansehen können. Und dass sich zu später Stunde noch ein Zimmermädchen in den Schlaftrakt verirrt hätte, war wenig wahrscheinlich… Und wenn auch. Ein exklusives Hotel, abgelegen, dennoch verkehrstechnisch bestens erschlossen, der Parkplatz zudem von der Strasse nicht einsehbar, absolute Diskretion Ehrensache – das Hotelpersonal dürfte Einiges gewöhnt sein.

Spätestens um acht Uhr wollte sie hier sein, hatte sie versichert. Er bestellte ein Glas Champagner; es passte zu seiner gehobenen Laune. Auf der halbseitig gedeckten Terrasse hatte er einen Tisch mit Blick auf den See reservieren lassen. Er würde sie hier erwarten. Verliebt bis über beide Ohren, auch nach den vielen Jahren noch, zählte er nach wie vor die Tage bis zu ihren jeweiligen Wiedersehen. Sie verlieh seinen Fantasien Flügel und gemeinsam mit ihr war er immer für eine Überraschung gut. Mal liessen sie das Nachtessen gänzlich ausfallen, mal bestellten sie erst um Mitternacht, was ihnen die Küche noch zu bieten hatte. Eingespielte Abläufe gab es bei ihm zu Hause zur Genüge. Zusammen mit Claudine kam niemals Langeweile auf. Sieben Jahre kannten sie sich jetzt bereits. Obwohl, dies war eigentlich nicht korrekt. Eine Jugendbekanntschaft. Und dann ein jahrzehntelanger Unterbruch zwischen ihrer Vergangenheit und dem Heute.

Sie war nur in ihren Schulferien zugegen, wohnte dann jeweils bei ihrer Tante im Nachbarhaus. Wie hatte er sich immer auf diese kostbaren gemeinsamen Wochen gefreut. Ihre Korrespondenz in den Monaten dazwischen war linkisch gewesen, ihrer beider Alter entsprechend, aber lebhaft, manchmal urkomisch und voll versteckter Anspielungen, welche für unbefugte Leser kaum zu entschlüsseln gewesen wären. War die Freundin aber dann erst einmal wieder da, war für Aufregung und Betrieb gesorgt. Sie brachte bald schon markanten Stil und frühreife Lebenserfahrung mit ins unschuldige Dorfleben. Sie verstrickte ihn in heissblütige Rollenspiele, wollte nächtelang zur Musik ihres mächtigen, im Dorf einmaligen Grammofons tanzen, begleitete ihn auf ihrer Violine zum Klavierspiel, improvisierte nach Herzenslaune und war voll exotischen Temperaments ihres aus dem Nahen Osten stammenden Vaters. Ihre Abstammung konnte sie nicht verleugnen. Ihre pechschwarzen Haare, ihre grossen dunklen, allwissenden Augen, ausgeprägte, hohen Wangenknochen, ihre schlanke Statur, ihre bereits markante Weiblichkeit! Er liebte alles an ihr, war unsterblich verliebt in sie, schon damals und noch ehe er überhaupt ahnte, was Liebe wirklich war. Vierzig Jahre später, nachdem sie sich, zufällig wie er seiner Frau mehrfach versichert hatte, anlässlich einer  seiner Geschäftsreisen wieder getroffen hatten, hatte sie für ihn noch immer kaum etwas von ihrer einstigen Anziehungskraft und ihrem Charme eingebüsst. Sie war älter, reifer geworden, doch ihre geheimnisvolle Aura zog ihn sogleich wieder in ihren Bann. Zugegebenermassen, und seiner Frau konnte er da nicht widersprechen, sie war ein verrücktes Huhn, gelinde gesagt manisch, immer in Bewegung, unternehmungslustig, kreativ, einnehmend und mitreissend, ledig jeglicher bürgerlicher Massstäbe, ebenfalls voller romantischer Phantasien. Claudine hatte er niemals vergessen können, trotz Ehefrau, Ehe, und Familie. Glanzlose, lange, verlorene Ehejahre konnten nicht mithalten mit sehnsüchtiger Erinnerung und verbotener Hoffnung und Zuversicht.

Er hatte sie, siebzehnjährig, aus den Augen verloren, als sie zur weiteren Ausbildung ihrem Vater nach Amerika gefolgt war. Ihre Briefe hatten rasch an Dynamik verloren. Sie lebte im Augenblick. Vergangenes war für sie vergangen, Künftiges zu weit weg, als dass es lohnte sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Und gerade deshalb mochte er sie, hatte sich immer verzehrt nach ihr. Wie ähnlich war sie ihm doch! Er hatte wohl nüchterne Naturwissenschaften studieren müssen, um später einen Brotberuf zu ergreifen, von dieser Forderung war seine Mutter keinen Jota abgewichen. Ein beschwerlicher Weg, der ihn letztlich aber immerhin in das Direktorium eines aufstrebenden Unternehmens geführt hatte. Eine künstlerische Laufbahn war immer sein Traum gewesen und dies leider auch geblieben. Musische Begabungen vielfältiger Art waren ihm in die Wiege gelegt worden. Er war begabter Zeichner und Maler, war hochmusikalisch; jedes Instrument in seiner Reichweite wusste er mitreissend zu spielen. Was er schrieb, ob Romane, Geschichten aber genauso auch Fachberichte, alles hatte Hand und Fuss und vermochte durch Eloquenz und Geist die unterschiedlichsten Lesergruppen in seinen Bann zu ziehen und zu überzeugen.

Claudines überraschenden Abschied hatte er damals nicht verstanden und sich damit kaum abfinden können. Sie schien es eher von der leichten Seite genommen zu haben. Dessen wurde er sich allerdings erst mit den Jahren bewusst. Schliesslich, so erschien es ihm bisweilen, war er für sie immer nur willkommene Ferienfreundschaft gewesen. Die Mädchen damals in seinem ländlichen Umfeld konnten es mit Claudine nicht aufnehmen, waren allesamt farblos, nichtssagend.



Mitten in der Nacht stand er auf. An Schlafen war ohnehin nicht zu denken gewesen. Er ging zur Rezeption, erkundigte sich nach ihr, zum dritten Mal jetzt, fragte nochmals ungeduldig, ob denn keine Nachricht für ihn da sei. War sie nicht. Nun begann er sich ernsthafte Sorgen zu machen um Claudine. Hatte es einen Unfall gegeben? Ihr Fahrstil war genauso unberechenbar wie ihr ganzes Wesen, wie ihre Sprunghaftigkeit, derentwegen er sie so liebte. Oder liess sie ihn feige im Stich, weil sie nach so langer gemeinsamer Zeit, urplötzlich an ihrer letztlich unmöglichen Beziehung zu zweifeln begonnen hatte? Durchschaute sie ihn? Wie oft hatten sie von einem Häuschen  versteckt in einem Pinienhain irgendwo auf einer Insel im griechischen Archipel, fernab aller Verpflichtungen und losgesagt von ihren beiden Familien, geschwärmt! Ein frivoler Traum; zu viel hielt ihn hier zurück. Doch wie hätte er ihr dies weismachen sollen; zu sehr hatte sie ihn in den letzten Monaten bedrängt

In den frühen Morgenstunden des Samstags hatte er die Hoffnung auf Claudines Kommen endgültig aufgegeben. Sie hatte zweifellos keine Möglichkeit gesehen, ihn zu benachrichtigen. Niemals hätte sie ihn nur einfach so versetzt und wären ihre Gründe noch so schwerwiegend gewesen. Sie liebte ihn, auch wenn sie sich nur alle zwei bis drei Wochen sahen. Und dies manchmal zudem noch unter fragwürdigen Umständen. Doch hatten sie immer Wege, Erklärungen und Entschuldigungen ihren beiden Ehepartnern gegenüber gefunden. Seine geschäftlichen Verpflichtungen liessen ihm einigen Spielraum. Zweimal im Jahr fuhr er zudem mit seinen Freunden für eine Woche zum Wandern und Kochen. Er würde später zu seinen Freunden stossen oder sich früher von ihnen verabschieden. So liessen sich jeweils längere Treffen vereinbaren. Und seine Freunde würden ohne Zweifel weiterhin dicht halten, hatten es bisher immer getan!.

Was war wirklich geschehen? Er musste Gewissheit haben. Kürzlich hatte er von der Vision gelesen, dass in zehn bis zwanzig Jahren der Markt mobile Telefone bereitstellen und dazu die ganze Welt vernetzen würde. Doch bis dahin ging es ja wohl noch eine Weile. Er fuhr in den nahen Ort, suchte eine Telefonkabine und hatte sogleich ihren Ehemann am andern Ende der Leitung. Jemand hatte ihm einmal erklärt, wie man bei der Telefongesellschaft unbekannte Anrufer oder zum mindestens die Herkunft der Anrufe identifizieren lassen konnte. Nach angemessener Pause, in der nächsten Telefonkabine im Nachbarort legte er den Hörer ebenso unverrichteter Dinge wieder in die Gabel, denn zu erkennen durfte er sich keinesfalls geben. Ihr Ehemann drohte ihr inzwischen unverhohlen mit massiven Konsequenzen, falls sie die Affäre nicht auf der Stelle beenden würde. Ihr fiel das Vertuschen und Verwischen verdächtiger Spuren wesentlich schwieriger als ihm. Mehr als einmal war sie mit handfesten Beweisen konfrontiert worden. Damals, war ihr beider Versuch ihre Bekanntschaft auf unschuldige Art und Weise sozusagen öffentlich zu machen haushoch misslungen. Zu einem seiner Geburtstage hatte er Claudine mit Mann und Sohn zu sich nach Hause eingeladen und sie als seine zufällig wieder gefundene Jugendbekanntschaft ausgegeben. Was sie schliesslich auch war. Doch so unschuldig sie beide sich auch gaben. Dass mehr hinter der Jugendfreundschaft stecken musste, war zweifellos nicht verborgen geblieben.

Kein Zimmer für sie reserviert! Dies gab man ihm an der Rezeption unmissverständlich zu verstehen. Sie beide wollten keinen unnötigen Verdacht aufkommen lassen und hatten immer getrennt ihre Zimmer reservieren lassen. Was hatte Claudine diesmal davon abgehalten?

Nach Hause konnte er nicht, noch nicht. Erst am Sonntagabend würde seine Frau ihn von seinem Wanderurlaub zurück erwarten. So sass er hier regelrecht fest. Es blieb ihm nichts anderes übrig als in diesem Hotel auszuharren. Mit Zeitungslesen und Wandern vertat er sich die nutzlose Warterei. Nur für eine halbe, höchstens eine Stunde wagte er es jeweils das Hotel für einen nervösen Streifzug durch die Umgebung zu verlassen. Denn dass Claudine doch noch kommen könnte, wollte und konnte er nicht ausschliessen. Die Stunden schlichen dahin, unerträglich langsam.

Ihm graute vor dem obligaten Anruf bei seiner Frau von heute Abend. Doch sie erwartete dieses Lebenszeichen von ihm. Darauf hatte sie bestanden, auch wenn sie sich bereits morgen wieder sehen würden. Und er ängstigte sich vor der Heimkehr, und dies von Mal zu Mal mehr. Wie sollte er seiner Frau unter die Augen treten. Was ahnte sie?

Claudine, so sagte sie ihm später am Telefon, hatte sich tatsächlich mit der Wahl des Hotels vertan und war nur wenige Autominuten entfernt im andern Hotel auf der gegenüberliegenden Seeseite festgesessen, hatte ebenfalls nicht Wege und Mittel gefunden ihn zu erreichen

Er konnte ihr die ihm unverständliche Verwechslung ihres Treffpunkts und mehr noch ihre Uneinsichtigkeit nicht verzeihen. Ihrer Zerstreutheit, ihrer Unbeständigkeit, ihrer Verspieltheit, die ihm bisher so viel bedeutet hatten, schrieb er dies unverzeihliche Missverständnis ihrerseits zu und ärgerte sich über sie.

Das Ende ihrer Liaison kam über Nacht, zwei Tage nach seiner Heimkehr. Es war peinlich, schäbig, brutal und gleichermassen billig, komisch, aber auch bitter und unendlich tragisch. Ein Donnerschlag mit einem entsetzlichen Nachhall. Und diesmal war er Auslöser und Ursache zugleich gewesen! Er, welcher es nie über sich gebracht hatte je nein zu sagen, war nun unwillentlich zum Anlass für den endgültigen Bruch geworden! Affären zu beginnen, das konnte er und er hatte es in den langen Jahren ihrer Ehe mehrmals überaus erfolgreich getan. Affären zu  beenden, das brachte er nicht übers Herz. Die verräterische Quittung für zwei Übernachtungen hätte jedem billigen Schundroman vom Kiosk um die nächste Ecke oder jeder seichten Seifenoper entstammen können. Seine Erklärungen gingen ins Leere! Sein Anruf, als er ihr in allen Einzelheiten von den Wanderungen und den Plänen mit seinen Freunden für Samstag erzählt hatte. Das passte nicht! Billig und schäbig, nichts als billig! Es gab nichts zu beschönigen.

Fortan lebten sie voller Misstrauen an einander vorbei. An weitere Wanderungen oder Kochveranstaltungen mit seinen ihm so unentbehrlichen gewordenen Freunden war nicht mehr zu denken. Diese wandten sich mehrheitlich von ihm, von ihnen ab, waren sie das hinterhältige Versteckspiel doch längst leid gewesen und fühlten sich nun gar noch mitschuldig an der ganzen Tragödie.

Für die wenigen Jahre, welche ihm noch beschieden sein sollten, blieb ihm nichts als Trauer und Verzweiflung. Sein letztes Abenteuer war mehr als ein blosses Abenteuer gewesen und das Leben ohne Claudine erwies sich als trostlos, wertlos, aussichtslos.


*pcf 2012