HUDSON RIVER 1 Volle Fassung
Sie hat ihn erwartet, aber nicht
kommen hören, hat sich dann auch nicht nach ihm umgewandt. „Nicht so scheu! Setz
dich; hast früher doch auch nicht erst gefragt!“
Ausser Atem streckt er sich
neben ihr aus, so als müsse er sich erst von einer langen, beschwerlichen
Wanderung erholen. Sie blickt nicht zu ihm auf, möchte auch gar nicht wissen,
was das Alter aus ihm gemacht hat.
„Und, wie geht es Dir?
Neunundvierzig Jahre sind eine lange Zeit! Erzähl!“
Sie haben kaum Augen für die
friedliche Landschaft, welche sich vor ihnen ausbreitet. Direkt unter ihnen
weiden einige Kühe, wohl die letzten vor dem grossen Alpabzug. In den Tälern
liegen erste Herbstnebel. Und heute Morgen, als sie erwacht ist, haben dunkle schwermütige
Wolken jede Sicht versperrt. Sie sind erst gegen Mittag der Sonne gewichen.
„Du hast mir auf keinen
meiner Briefe geantwortet.“
„Fünfzehn, wenn du genau sein
willst. Ja, und ich habe sie ebenfalls nicht gelesen; ich habe sie verbrannt,
einen nach dem andern, jeden einzelnen. Briefe, als hätten mir da noch Briefe
helfen können! Als ich dich am nötigsten gehabt hätte, hast auch du mir nicht
geantwortet. Dreimal habe ich dir nach Mailand geschrieben. Mein letzter Brief
ist als unzustellbar zurückgekommen. Oder hast du leichtfertig und wieder mal ganz
locker einfach die Annahme verweigert? Und später, Gerhard, später dann, da war
es zu spät, zu spät für alles.“
Ihre Beine tun ihr weh. Das
kurze Wegstück, die wenigen Minuten bis zu dieser Ruhebank, die bekommen ihr
nicht. Nicht mehr. Das lange Sitzen ebenso wenig. Letzten Sommer noch, da ist
sie wie in all den Jahren zuvor bis zur Alp hoch gestiegen. Gerne wäre sie nur ein
paar wenige Schritte gegangen. Hätte sich kurz die Beine vertreten mögen. Gerhard,
hat sie doch solange auf ihn gewartet; das kann sie ihm jetzt nicht antun. Und
sich selbst ebenso wenig!
„Du hast mich immer
missverstanden! Ich bin nicht so leichtfertig durchs Leben getrudelt. Habe auch
eine Familie gegründet. Bald danach! Und noch immer bin ich mit meiner Frau
zusammen. Meiner ersten, nach dir. Du hast mir misstraut. Hast nichts Besseres
gewusst, als wieder und wieder an meiner Ernsthaftigkeit, an meiner Fähigkeit
zu Liebe und Beständigkeit zu zweifeln. Warum Alma? Warum? Sag es mir. Alma,
ich habe dich geliebt. Immer. Auch heute noch; ich liebe dich wie an unserem
ersten Tag. Alma, ich habe dich nie vergessen können. Wir haben nur diese drei
Tage für uns gehabt. Hier oben. Aber es sind die schönsten und kostbarsten meines
Lebens gewesen. Ich hätte alles aufgegeben. Alles. Für dich!“
„Hast du aber nicht. Hast
dich feige davon gestohlen, kaum ist er wieder zurück gewesen.“ Sie seufzt.
Schweigt. Wartet. Aber er widerspricht nicht. „Und jetzt, wo bist Du
untergekommen? Hier im Kurhaus, in unserem Kurhaus? Aber sicher nicht! Hättest
dich nicht gewagt. Wohnst doch gar nicht hier, hätte dir ja längst begegnen
müssen.“
„Nein. Alte Bekannte aus
meiner Zeit beim Militär. Die müsstest du sogar noch kennen. Nicht weit von
hier, im Tal unten haben sie ein grosses Haus, alt eingesessener Landadel.
Grosszügige Leute, wirklich“
„Und du? Natürlich wohnst du
im Kurhaus? Was anderes hab ich gar nicht erwartet.“
„Wo sonst? Seit Georgs Tod
komme ich jeden Sommer hier hoch. Gehöre bald schon zum Inventar. Ja, und dann
warte ich hier auf Dich, Tag für Tag. Hast dir lange Zeit gelassen. Gerhard. Sehr
lange. Wärst beinahe zu spät gekommen.“
Wiederum schweigen sie. Sie
spürt seine angenehme Wärme. Unbemerkt ist er näher gerückt. Auch sein
Rasierwasser. Den Geruch hat sie nie vergessen. Wie hat sie dies gemocht! Noch
immer pflegt er sich, peinlich auf sein Aussehen bedacht. Hat sich nicht gehen
lassen. Bis heute nicht. Sein Alter hat er nicht als Vorwand für all die Nachlässigkeiten
vorgeschoben, die das Altern mit sich bringt. Seine Erscheinung ist ihm immer
wichtig gewesen. Er ist sich seiner treu geblieben.
„Ja, einen Sohn habe ich.“,
erwidert sie. „Ist ebenfalls Arzt. Hat schliesslich dann die Praxis doch nicht übernehmen
wollen. Chirurg an der Universitätsklinik. Seine Frau arbeitet in seiner
Abteilung, ist ebenfalls Chirurgin. Haben einen Sohn und eine Tochter. Mag sie
sehr, meine Grosskinder, auch wenn sie mir jetzt entgleiten, ihre eigenen Wege gehen.
Wohnen nicht mehr zu Hause, studieren beide in der Hauptstadt.“
Hat sie bereits zu viel
preisgegeben. Beide hängen ihren Gedanken nach. Was hat man sich denn nach so
langer Zeit noch zu sagen, da, wo es nur Vergangenheit gibt und es eine Zukunft
nie hat geben dürfen? Soviel hätte sie ihm jetzt zu erzählen. Hat ihm ihre
Geschichte wohl schon hundert Mal erzählt, hier auf ihrer Bank. Nur da ist er nie
dagewesen. Ihre Zeit ist um; was bleibt ihr jetzt noch nachzutragen. Sie hat
ihm längst alles mitgeteilt. Alles, damals in ihren drei von ihm verschmähten
Briefen. Zu einer Zeit, als noch alles möglich gewesen wäre.
„Frau Haltiner, nicht
erschrecken, ich bin’s, nur ich!“ Seit die Frau Haltiner kürzlich zu Tode
erschrocken ist, ruft ihr die Köchin immer schon von weitem zu, bevor sie sie
zum Hotel zurück begleitet. Und seit ihr bewusst geworden ist, wie die alte
Frau in ihrer Anwesenheit immer wieder nervös gewesen ist, verzichtet sie auf
ihre nachmittäglichen Plaudereien, hier auf dieser einsamen Aussichtskanzel. Es
mag sie; sie versteht diese Wandlung nicht und fühlt sich irgendwie
ausgeschlossen. Ausgegrenzt aus etwas, das es zwischen ihnen beiden vielleicht gar
nie gegeben hat. Unruhig, ungehalten ist sie ihr jeweils erschienen, als würde
sie auf etwas, auf jemanden warten, auf etwas, das vielleicht nie kommen würde.
Ungeduldig ist sie in letzter Zeit. Als hätte sie Angst, bei einem heimlichen
Stelldichein gestört zu werden. Und dann doch, unversehens wieder die alte
Vertrautheit, wenn sie Arm in Arm zurückgehen. Seitdem jedenfalls begleitet sie
sie bloss noch auf ihrem nachmittäglichen Spaziergang, zuerst hin und später im
Nachmittag dann wieder zurück. Mit zaghaften Schritten. Ängstlich besorgt, dass
ihr was zustossen könnte.
„Gerhard! Du musst gehen!
Jetzt, ich werde abgeholt. Verena lässt mich nicht mehr unbeaufsichtigt.“
Sie hat sich ihm zugewandt.
Besorgt, man würde ihn hier, neben ihr auf der Parkbank entdecken, wenn er
nicht rasch genug weg wäre. Ein zufälliger Bekannter, ein Freund, vielleicht
sogar ein ehemaliger Geliebter. Nein! Fragen würden sich an Fragen reihen. Sie
hätte keine Antwort, keine Erklärung.
Doch, er ist bereits weg.
Verschwunden, wie er gekommen ist. Trotzdem. Verzweifelt sieht sie ihm nach,
ihm nach, in der Richtung, aus welcher wohl gekommen und in welcher jetzt verschwunden
ist. Da weiss sie, dass sie ihn nicht mehr wiedersehen wird. Schon einmal ist
er gegangen. Auch damals hat sie ihn nicht zurückgehalten. Hat ihn nicht zurück
zu halten vermocht. Auch damals, als er den Bus gestiegen ist. Damals ebenso
wie jetzt, auch da schon hat sie gewusst, dass es eine Zukunft für sie beide nie
geben würde. Aber nicht geahnt hat sie, dass sie ihm nur wenige Wochen später drei
verzweifelte Briefe schreiben würde.
Es geht nicht. Ihre Beine
versagen ihren Dienst. Ganz plötzlich, für sie gänzlich unerwartet. Kraftlos
entgleitet ihr der Gehstock.
„Sie frieren ja! Du lieber
Himmel! Hier im Schatten zu sitzen! Hätte ich gewusst, dass die Sonne jetzt
bereits so schnell hinter dem Wald verschwindet, hätte ich Sie jeweils bereits
vor meiner Zimmerstunde wieder abgeholt.“ Sie hackt sich zur Linken unter. „Warum
haben sie nichts gesagt?“ Die Küchenhilfe, welche sie eiligst herbeigerufen
hat, übernimmt die andere Seite. Zu dritt schaffen sie mühsam den kurzen
Fussweg zurück bis zum Hotel. Als sie in die Sonne treten, leuchtet die wundervolle
Bernsteinkette in Verenas Ausschnitt hell auf. Nicht ihrer Schwiegertochter,
nein, Verena, dieser fürsorglichen Köchin hat sie das lange Jahre sorgsam
gehegte Schmuckstück ihrer Mutter vermacht. Warum ihr? Dies, eines ihrer letzten
Geheimnisse, sie würde es mit sich ins Grab mitnehmen. Und so würde es für
immer ihr Geheimnis bleiben. In den vergangenen Jahren und zunehmend besorgter hat
Verena ein wachsames Auge gehabt, hat die alte Dame des Öfteren zu deren
Lieblingsplatz begleitet, sich mit ihr bisweilen die Zeit mit fröhlichem
Geplauder vertan. Alte Geschichten, Erinnerungen, Gedanken einerseits.
Hoffnungen und Wünsche, ja auch Vorsätze für eine glückliche Zukunft
andererseits. Die etwas schrullige, aber herrlich präsente Frau ist Verena ans
Herz gewachsen. Seit einigen Wochen aber sorgt sie jetzt umsichtig dafür, dass jeder
dieser täglichen Ausflüge unbeschadet von statten geht. Sie lässt sie kaum noch
aus den Augen. Bald sind sie beim Hotel angekommen. Die Bernsteinkette! Sie selbst
hat sie nie getragen. Hat sie immer sorgsam aufgehoben. Glücklicher Schauder
hat die alte Dame erfasst; sie ist dankbar. Unendlich dankbar für Zuwendung,
dankbar für späte Liebe, die ihr hier entgegengebracht wird. Stellt sich manchmal
vor hier von ihrer Tochter umsorgt zu werden. Und tatsächlich! Ein unbefangen
Entgegenkommender würde in den beiden Frauen unschwer Mutter und Tochter zu
erkennen glauben. Denn trotz des markanten Altersunterschieds. Dieselbe Statur,
beide gross gewachsen, die eine etwas gebückt. Dieselben hageren Gesichtszüge.
Hohe, ausdrucksvolle Wangen. Ähnliche Haarfarbe, die Haare der Älteren
allerdings unverkennbar durchzogen von Silberstreifen.
Sie hat lange wohl geschlafen,
vielleicht auch nur gedöst. Sie weiss es nicht. „Es ist Zeit für mich. Jetzt
möchte ich einfach nur noch zurück in meine vier Wände.“ Den Einwand ihres
Sohnes will sie so nicht stehen lassen. „Ich habe da doch alles, was ich
brauche, kenne jeden Handgriff. Frau Lehmann kauft für mich ein, kocht und
putzt. Lass mich. Lass mir meine letzten Tage, Wochen.“
„Deine Fieber kriegen wir nicht runter. Mutter.
Morgen früh fahren wir zurück. Deine Lungen gefallen mir überhaupt nicht. Dein
Herz hat Mühe.“ Er ist wieder an ihr Bett getreten, legt seine Hand behutsam
auf die ihre. „Fürs erste einmal kommst du zu mir. Ich will dich im Spital
gründlich untersuchen lassen. Diese Köchin, alle paar Stunden hat sie nach Dir
geschaut. Sie ist mir sehr besorgt erschienen, macht sich grosse Vorwürfe, fürchtet,
das lange Sitzen auf dieser Parkbank sei dir nicht gut bekommen.“
„Nein, nach Hause will ich!
Und ein Altenheim kommt für mich nicht in Frage! Das weisst du.“, setzt sie
nach.
Er insistiert nicht weiter. Weiss,
dass jedes Beharren jetzt kaum Sinn machen würde. Gestern, früh morgens ist er
angekommen. Seine Mutter sei seit vergangenen Nachmittag bettlägerig. Er
versteht die Sorge der Hoteldirektion nur zu gut. Längst nur noch dem Namen nach
ist dies ein Kurhaus. Dennoch! Alle haben sich liebevoll um ihren Stammgast
gekümmert. Dass man nicht eingerichtet und in der Lage zu längerer Krankenpflege
sei, hat ihn nicht überrascht, hat ihn aber bestärkt in seinem Vorsatz so bald
als für sie zumutbar mit ihr ins Tal zu fahren und ihr die unerlässliche
ärztliche Betreuung zukommen zu lassen. Mit dem wenigen, was er mitgebracht
hat, ist er nicht in der Lage sie fachgerecht zu untersuchen, geschweige denn zu
behandeln. Trotz des besorgten Anrufs, er hat nicht ahnen können, wie schlimm es
um sie steht. Auch der von der Hotelleitung herbeigerufene Hausarzt hat
offenbar nicht weiterhelfen können. Deshalb noch spät in der Nacht gestern der Hilferuf.
Gemeinsam haben sie das Bett
hochgestellt. Verena und er. Jetzt sitzt er neben ihr. Ihr Puls hat sich wieder
etwas normalisiert. Ebenso, das Atmen, es geht wieder besser. Sie sieht ihm mit
wachen Augen zu, wie er in der wenigen Post, die er von zu Hause mitgebracht hat, blättert. Ihre Post.
„Nur einige Dankesbriefe von
wohltätigen Organisationen, das Übliche eben.“ Sie kennt seine Einstellung zur
Entwicklungshilfe. „Verschwendetes Geld“, hat er einmal ihre grosszügigen Spenden
kommentiert. „Damit hilft man niemandem. Das sagen selbst Afrikaner, geschulte,
erfahrene Wissenschaftler, welche es wirklich wissen müssten. Schult sie, ihre
Forderung. Gebt ihnen Arbeit und Verantwortung und entlastet nicht euer
schlechtes Gewissen mit immer noch mehr nutzlosen Spenden. Dasselbe wie in all
diesen Staaten, welche vor lauter Bodenschätzen geradezu überquellen. Nur
Korruption, das ist alles, was ihr mit dem vielen Geld erreicht.“
Sie hat ihn reden lassen, hat
sich all dieser Schrecken erinnert, von denen ihr Mann jeweils nach seiner
Rückkehr von seinen Einsätzen in den heruntergekommenen Spitälern berichtet
hat. Dennoch, wie sollte sie helfen? Sie? Wie anders als mit ihren Spenden? Was
sie erübrigen kann, lässt sie Hilfswerken zukommen.
„Die Rechnungen sind alle
bereits bezahlt; ich habe sie nicht mitgebracht. „Haltiner, der Absender“, per US
mail? Letzte Woche aufgegeben. Du, ich habe nicht gewusst, dass wir dort
Verwandte haben. Soll ich Dir vorlesen?“.
Sie hat gezögert. „Schwierig
zu lesen, diese Handschrift. Ich versuche gleich zu übersetzen, so gut es geht.
Da schreibt dir eine Julia wegen einem „Gerhard Haltiner“, offensichtlich ihr
Vater. Sie habe „attached to his will“, also bei seinem Testament eine note
gefunden, man solle euch unmittelbar nach seinem Tod benachrichtigen. Er ist,
so schreibt sie weiter, sehr lange krank gewesen und schliesslich bei ihr, in
ihrem Haus gestorben. Sie hätten die Pflege übernommen, da Jack – ich weiss
zwar nicht, wer dieser Jack ist – da Jack in der Army sei und nun von einem zum
nächsten Krisengebiet geschoben werde. Sie sende entsprechend seinem Wunsch jetzt
zwar diese Nachricht von seinem Tode, wisse aber leider nicht, wer Alma und
Georg seien. Auf eine Abdankung und ein eigentliches Begräbnis habe man seinem
Wunsch entsprechend ausdrücklich verzichtet. Seine Asche, ergänzt sie da noch,
hätten sie und ihr Bruder gemäss seinem letzten Willen gestern Nachmittag über
dem Hudson-River verstreut.“
Sie hat ihm nachdenklich
zugehört. Er meint Tränen in ihren Augen gesehen zu haben. Mag sich auch
getäuscht haben. Doch inzwischen scheint sie wieder eingeschlafen zu sein. Vielleicht
versucht sie sich auch nur zu erinnern. Was weiss sie über diesen grossen
Unbekannten? Verwirrt legt er den Brief zur übrigen Post und beginnt ihren
Koffer zu packen, alles, was sie heute und morgen früh, bis zur Abreise, bestimmt
nicht mehr brauchen wird.
Das weitherum bekannte
Kurhaus. Seit an die zehn Jahre nun, hat sie immer wieder hartnäckig darauf
bestanden jeweils im Sommer für mehrere Wochen hierher zu kommen. Etwas anderes
ist für sie nicht mehr in Frage gekommen. Ihr besonderes Verhältnis zu dieser
Köchin ist ihm nicht verborgen geblieben. Er hat sich nicht viel dabei gedacht.
Hat nie nach dem Grund gefragt. Wie oft hat er seine Mutter nicht oder ganz
einfach falsch verstanden. Seine hilflosen Versuche sie zu überreden mit ihnen
und ihren Grosskindern nach Elba zu kommen, hat sie ein ums andere Mal strickte
abgelehnt.
Nur einmal noch, damals, unmittelbar
nach Vaters Tod hat sie gewünscht mit ihm zu verreisen, für einige Tage nach
Mailand zu fahren. Der fantastisch anmutende Dom und all die andern
Sehenswürdigkeiten aber haben sie unbeeindruckt gelassen. Nach einer Adresse in
einer beliebigen Geschäftsstrasse hat sie ihn geheissen zu suchen. Gleich bei
ihrer Ankunft. Als sie beide vor dem modernen Bürogebäude gestanden sind, hat
sie jedoch ganz offensichtlich jedes Interesse an Mailand bereits wieder
verloren gehabt und auf baldiger Heimkehr bestanden. Nur eine Nacht sind sie
geblieben.
Nie mehr, auch nicht ein Wort
mehr hat sie über Mailand und ihren kurzen Ausflug verloren. Sein
gelegentliches Nachfragen nach der Bedeutung dieser Adresse hat sie immer
wieder ins Leere laufen lassen.
Erst kurz vor der
Nachtessenszeit erwacht sie und bittet ihn zu ihr ans Bett zukommen. Mit
schwacher Stimme hat sie ihn vom Balkon hereingerufen.
„Es ist Zeit für mich.“ Hat
sie wiederholt. „Zeit auch für das traurige Finale! Natürlich hast Du nichts
von Gerhard Haltiner wissen können, hast auch nichts von all dem wissen dürfen.
Das habe ich deinem Vater hoch und heilig versprechen müssen. Und dabei ist es geblieben. Bis zu seinem Tod
unser streng gehütetes Geheimnis.“ Nachdenklich, zögernd, mit unsicherer Stimme
fährt sie fort: „Jetzt ist er tot, Gerhard auch. Jetzt hindert mich nichts
mehr. Wie du weisst, ist Dein Vater in jungen Jahren die meiste Zeit an
Spitälern quer durch Afrika beschäftigt gewesen. Bei seiner kurzen Rückkehr jeweils
ist er mir von da weg wie ein Fremder erschienen. All das Elend hat ihn
aufgefressen. Welche Enttäuschung, welcher Frust für mich! Damals, wie wir uns
im Spital kennengelernt haben, da habe ich mich gleich Hals über Kopf in den jungen,
fröhlichen und zu allen Spässen aufgelegten Assistenzarzt verliebt. Zwei Jahre
haben wir unverheiratet zusammengelebt. Ich noch als Krankenschwester in
derselben Abteilung. Unverheiratet! Ein Skandal zur damaligen Zeit. Unerhört!
Da hätte es wenig gebracht, wenn wir unseren Eltern hätten erklären wollen,
dass wir uns die Wohnung unmittelbar in Nähe des Spitals nur würden leisten
können, wenn wir unsere bescheidenen Verdienste zusammenlegen. Felix, das sind
unsere schönsten Jahre gewesen. Verliebt und unbeschwert haben wir unser kleines
bescheidenes Lotterleben genossen. Kurz nach unserer Hochzeit aber, da hat mein
Georg dann diese Dienste für die Entwicklungshilfe übernommen. Deine ersten
Jahre hat er gar nicht bewusst miterlebt. Hat dich kaum wahrgenommen. Ich bin
allein gewesen mit dir. Alleingelassen, auf mich gestellt. Da magst du dich
nicht mehr erinnern. Gross ist unsere gemeinsame Freude gewesen, als ich dann
wieder schwanger geworden bin. Nach der missglückten Geburt deiner Schwester
ist er endgültig hier geblieben und hat die Praxis eröffnet. Über den Tod
meines kleinen Mädchens bin ich dennoch nie hinweggekommen. Das alles kannst du
nicht wissen. Für mich ist es unendlich wichtig gewesen, dich meine Trauer nie
spüren zu lassen. Ich habe mir alle Mühe gegeben, für dich da zu sein. Nur für
dich. Das einzige, was mir geblieben ist. Ausser der Trauer. Immer aber habe
ich mir vorgestellt, wie meine Tochter jetzt aussehen würde, wie sie lachen,
weinen, aufwachsen und sich am Leben freuen würde. Bin ich einem hochgewachsenen
jungen Mädchen mit lockigen braunen Haaren begegnet, einem, das Julia hätte
sein können, ist für mich wiederum eine Welt in sich zusammengebrochen. Unsere
Ehe ist schliesslich daran zerbrochen und den Rest kennst Du.“
„Das erklärt immer noch
nicht, was es mit diesem Gerhard auf sich hat.“
Ist sie wieder
eingeschlummert? Hat sie sich überfordert? Hat die Vergangenheit sie eingeholt?
Nach einer langen Pause fährt
sie fort. „Deinem Vater habe ich versprochen, dir nie von Gerhard zu erzählen.
Vaters und sein Tod entbinden mich von diesem Versprechen. Vater ist nicht dein
Vater. Gerhard ist sein Zwillingsbruder, sein Zwillingsbruder gewesen. Unsere
drei verbotenen Tage, Gerhards und meine, Felix, hier in diesem Kurhaus, darum
gibt es dich. Diese Tage sind für mich unvergesslich. Gerhard ist für mich plötzlich
all das gewesen, was ich an meinem Mann in unseren ersten Jahren so geliebt und
später so schrecklich vermisst habe. Fröhlich, liebevoll, voller Zärtlichkeit
und Hingebung ist er gewesen. Nach diesen drei Tagen ist er wieder nach Mailand
zurückgekehrt. Wir haben nie mehr voneinander gehört. Und ich habe gebüsst,
mein ganzes Leben lang. Gebüsst auch mit dem unverdienten Tod unserer Tochter,
Georgs und meiner Tochter. So habe ich mir das in meiner Verzweiflung zu Recht
gelegt. Nur so habe ich lange Zeit diesen Schicksalsschlag verstehen können. Georg,
ungefragt hat er dich als seinen Sohn anerkannt und das ohne dich je in Frage
zu stellen. Er hat mir zur einzigen Bedingung gemacht, dass es Gerhard, für
mich, für uns, für Dich nie gegeben hat. Dein Vater und damit meine ich
wirklich Georg. Er hat dich geliebt, hat alles in seiner Macht stehende für
dich getan. Du willst es noch heute nicht glauben. Dass du seine Praxis nicht
weitergeführt hast, das hat er dir bereits lange vor seinem Tod verziehen.
Verziehen, als er erst einmal begriffen hat, dass du nicht feige den endlosen rücksichtslosen
Anforderungen einer Allgemeinpraxis auf dem Land hast ausweichen wollen. Sondern
dass auch in dir das Feuer gebrannt hat und dass du deine Zukunft eben als
Chirurg und als eifriger Lehrer deiner Studenten und eben nur als das gesehen
hast. Ja, du hast ihm, uns den Rücken gekehrt. Und dennoch, unsere letzten vier
gemeinsamen Jahre, Georg und ich, als wir endlich wieder zueinander gefunden
haben, sie sind unser spätes Glück gewesen. Haben uns entschädigt dafür, was
wir in jungen Jahren leichtfertig aufgegeben haben. Weil mir nicht mehr weiter
gewusst haben.“
Als Verena nach ihrem kurzen
Urlaub die Todesanzeige in den Händen hält, da ist Alma bereits seit einer
Woche tot und ihre Asche in alle Winde verstreut gewesen.
*pcf 2012.