Dienstag, 13. November 2012

Hudson River


HUDSON RIVER 1 Volle Fassung



Sie hat ihn erwartet, aber nicht kommen hören, hat sich dann auch nicht nach ihm umgewandt. „Nicht so scheu! Setz dich; hast früher doch auch nicht erst gefragt!“

Ausser Atem streckt er sich neben ihr aus, so als müsse er sich erst von einer langen, beschwerlichen Wanderung erholen. Sie blickt nicht zu ihm auf, möchte auch gar nicht wissen, was das Alter aus ihm gemacht hat.

„Und, wie geht es Dir? Neunundvierzig Jahre sind eine lange Zeit! Erzähl!“

Sie haben kaum Augen für die friedliche Landschaft, welche sich vor ihnen ausbreitet. Direkt unter ihnen weiden einige Kühe, wohl die letzten vor dem grossen Alpabzug. In den Tälern liegen erste Herbstnebel. Und heute Morgen, als sie erwacht ist, haben dunkle schwermütige Wolken jede Sicht versperrt. Sie sind erst gegen Mittag der Sonne gewichen.

„Du hast mir auf keinen meiner Briefe geantwortet.“

„Fünfzehn, wenn du genau sein willst. Ja, und ich habe sie ebenfalls nicht gelesen; ich habe sie verbrannt, einen nach dem andern, jeden einzelnen. Briefe, als hätten mir da noch Briefe helfen können! Als ich dich am nötigsten gehabt hätte, hast auch du mir nicht geantwortet. Dreimal habe ich dir nach Mailand geschrieben. Mein letzter Brief ist als unzustellbar zurückgekommen. Oder hast du leichtfertig und wieder mal ganz locker einfach die Annahme verweigert? Und später, Gerhard, später dann, da war es zu spät,  zu spät für alles.“

Ihre Beine tun ihr weh. Das kurze Wegstück, die wenigen Minuten bis zu dieser Ruhebank, die bekommen ihr nicht. Nicht mehr. Das lange Sitzen ebenso wenig. Letzten Sommer noch, da ist sie wie in all den Jahren zuvor bis zur Alp hoch gestiegen. Gerne wäre sie nur ein paar wenige Schritte gegangen. Hätte sich kurz die Beine vertreten mögen. Gerhard, hat sie doch solange auf ihn gewartet; das kann sie ihm jetzt nicht antun. Und sich selbst ebenso wenig!

„Du hast mich immer missverstanden! Ich bin nicht so leichtfertig durchs Leben getrudelt. Habe auch eine Familie gegründet. Bald danach! Und noch immer bin ich mit meiner Frau zusammen. Meiner ersten, nach dir. Du hast mir misstraut. Hast nichts Besseres gewusst, als wieder und wieder an meiner Ernsthaftigkeit, an meiner Fähigkeit zu Liebe und Beständigkeit zu zweifeln. Warum Alma? Warum? Sag es mir. Alma, ich habe dich geliebt. Immer. Auch heute noch; ich liebe dich wie an unserem ersten Tag. Alma, ich habe dich nie vergessen können. Wir haben nur diese drei Tage für uns gehabt. Hier oben. Aber es sind die schönsten und kostbarsten meines Lebens gewesen. Ich hätte alles aufgegeben. Alles. Für dich!“

„Hast du aber nicht. Hast dich feige davon gestohlen, kaum ist er wieder zurück gewesen.“ Sie seufzt. Schweigt. Wartet. Aber er widerspricht nicht. „Und jetzt, wo bist Du untergekommen? Hier im Kurhaus, in unserem Kurhaus? Aber sicher nicht! Hättest dich nicht gewagt. Wohnst doch gar nicht hier, hätte dir ja längst begegnen müssen.“

„Nein. Alte Bekannte aus meiner Zeit beim Militär. Die müsstest du sogar noch kennen. Nicht weit von hier, im Tal unten haben sie ein grosses Haus, alt eingesessener Landadel. Grosszügige Leute, wirklich“

„Und du? Natürlich wohnst du im Kurhaus? Was anderes hab ich gar nicht erwartet.“

„Wo sonst? Seit Georgs Tod komme ich jeden Sommer hier hoch. Gehöre bald schon zum Inventar. Ja, und dann warte ich hier auf Dich, Tag für Tag. Hast dir lange Zeit gelassen. Gerhard. Sehr lange. Wärst beinahe zu spät gekommen.“

Wiederum schweigen sie. Sie spürt seine angenehme Wärme. Unbemerkt ist er näher gerückt. Auch sein Rasierwasser. Den Geruch hat sie nie vergessen. Wie hat sie dies gemocht! Noch immer pflegt er sich, peinlich auf sein Aussehen bedacht. Hat sich nicht gehen lassen. Bis heute nicht. Sein Alter hat er nicht als Vorwand für all die Nachlässigkeiten vorgeschoben, die das Altern mit sich bringt. Seine Erscheinung ist ihm immer wichtig gewesen. Er ist sich seiner treu geblieben.

„Ja, einen Sohn habe ich.“, erwidert sie. „Ist ebenfalls Arzt. Hat schliesslich dann die Praxis doch nicht übernehmen wollen. Chirurg an der Universitätsklinik. Seine Frau arbeitet in seiner Abteilung, ist ebenfalls Chirurgin. Haben einen Sohn und eine Tochter. Mag sie sehr, meine Grosskinder, auch wenn sie mir jetzt entgleiten, ihre eigenen Wege gehen. Wohnen nicht mehr zu Hause, studieren beide in der Hauptstadt.“

Hat sie bereits zu viel preisgegeben. Beide hängen ihren Gedanken nach. Was hat man sich denn nach so langer Zeit noch zu sagen, da, wo es nur Vergangenheit gibt und es eine Zukunft nie hat geben dürfen? Soviel hätte sie ihm jetzt zu erzählen. Hat ihm ihre Geschichte wohl schon hundert Mal erzählt, hier auf ihrer Bank. Nur da ist er nie dagewesen. Ihre Zeit ist um; was bleibt ihr jetzt noch nachzutragen. Sie hat ihm längst alles mitgeteilt. Alles, damals in ihren drei von ihm verschmähten Briefen. Zu einer Zeit, als noch alles möglich gewesen wäre.

„Frau Haltiner, nicht erschrecken, ich bin’s, nur ich!“ Seit die Frau Haltiner kürzlich zu Tode erschrocken ist, ruft ihr die Köchin immer schon von weitem zu, bevor sie sie zum Hotel zurück begleitet. Und seit ihr bewusst geworden ist, wie die alte Frau in ihrer Anwesenheit immer wieder nervös gewesen ist, verzichtet sie auf ihre nachmittäglichen Plaudereien, hier auf dieser einsamen Aussichtskanzel. Es mag sie; sie versteht diese Wandlung nicht und fühlt sich irgendwie ausgeschlossen. Ausgegrenzt aus etwas, das es zwischen ihnen beiden vielleicht gar nie gegeben hat. Unruhig, ungehalten ist sie ihr jeweils erschienen, als würde sie auf etwas, auf jemanden warten, auf etwas, das vielleicht nie kommen würde. Ungeduldig ist sie in letzter Zeit. Als hätte sie Angst, bei einem heimlichen Stelldichein gestört zu werden. Und dann doch, unversehens wieder die alte Vertrautheit, wenn sie Arm in Arm zurückgehen. Seitdem jedenfalls begleitet sie sie bloss noch auf ihrem nachmittäglichen Spaziergang, zuerst hin und später im Nachmittag dann wieder zurück. Mit zaghaften Schritten. Ängstlich besorgt, dass ihr was zustossen könnte.

„Gerhard! Du musst gehen! Jetzt, ich werde abgeholt. Verena lässt mich nicht mehr unbeaufsichtigt.“

Sie hat sich ihm zugewandt. Besorgt, man würde ihn hier, neben ihr auf der Parkbank entdecken, wenn er nicht rasch genug weg wäre. Ein zufälliger Bekannter, ein Freund, vielleicht sogar ein ehemaliger Geliebter. Nein! Fragen würden sich an Fragen reihen. Sie hätte keine Antwort, keine Erklärung.

Doch, er ist bereits weg. Verschwunden, wie er gekommen ist. Trotzdem. Verzweifelt sieht sie ihm nach, ihm nach, in der Richtung, aus welcher wohl gekommen und in welcher jetzt verschwunden ist. Da weiss sie, dass sie ihn nicht mehr wiedersehen wird. Schon einmal ist er gegangen. Auch damals hat sie ihn nicht zurückgehalten. Hat ihn nicht zurück zu halten vermocht. Auch damals, als er den Bus gestiegen ist. Damals ebenso wie jetzt, auch da schon hat sie gewusst, dass es eine Zukunft für sie beide nie geben würde. Aber nicht geahnt hat sie, dass sie ihm nur wenige Wochen später drei verzweifelte Briefe schreiben würde.

Es geht nicht. Ihre Beine versagen ihren Dienst. Ganz plötzlich, für sie gänzlich unerwartet. Kraftlos entgleitet ihr der Gehstock.

„Sie frieren ja! Du lieber Himmel! Hier im Schatten zu sitzen! Hätte ich gewusst, dass die Sonne jetzt bereits so schnell hinter dem Wald verschwindet, hätte ich Sie jeweils bereits vor meiner Zimmerstunde wieder abgeholt.“ Sie hackt sich zur Linken unter. „Warum haben sie nichts gesagt?“ Die Küchenhilfe, welche sie eiligst herbeigerufen hat, übernimmt die andere Seite. Zu dritt schaffen sie mühsam den kurzen Fussweg zurück bis zum Hotel. Als sie in die Sonne treten, leuchtet die wundervolle Bernsteinkette in Verenas Ausschnitt hell auf. Nicht ihrer Schwiegertochter, nein, Verena, dieser fürsorglichen Köchin hat sie das lange Jahre sorgsam gehegte Schmuckstück ihrer Mutter vermacht. Warum ihr? Dies, eines ihrer letzten Geheimnisse, sie würde es mit sich ins Grab mitnehmen. Und so würde es für immer ihr Geheimnis bleiben. In den vergangenen Jahren und zunehmend besorgter hat Verena ein wachsames Auge gehabt, hat die alte Dame des Öfteren zu deren Lieblingsplatz begleitet, sich mit ihr bisweilen die Zeit mit fröhlichem Geplauder vertan. Alte Geschichten, Erinnerungen, Gedanken einerseits. Hoffnungen und Wünsche, ja auch Vorsätze für eine glückliche Zukunft andererseits. Die etwas schrullige, aber herrlich präsente Frau ist Verena ans Herz gewachsen. Seit einigen Wochen aber sorgt sie jetzt umsichtig dafür, dass jeder dieser täglichen Ausflüge unbeschadet von statten geht. Sie lässt sie kaum noch aus den Augen. Bald sind sie beim Hotel angekommen. Die Bernsteinkette! Sie selbst hat sie nie getragen. Hat sie immer sorgsam aufgehoben. Glücklicher Schauder hat die alte Dame erfasst; sie ist dankbar. Unendlich dankbar für Zuwendung, dankbar für späte Liebe, die ihr hier entgegengebracht wird. Stellt sich manchmal vor hier von ihrer Tochter umsorgt zu werden. Und tatsächlich! Ein unbefangen Entgegenkommender würde in den beiden Frauen unschwer Mutter und Tochter zu erkennen glauben. Denn trotz des markanten Altersunterschieds. Dieselbe Statur, beide gross gewachsen, die eine etwas gebückt. Dieselben hageren Gesichtszüge. Hohe, ausdrucksvolle Wangen. Ähnliche Haarfarbe, die Haare der Älteren allerdings unverkennbar durchzogen von Silberstreifen.

Sie hat lange wohl geschlafen, vielleicht auch nur gedöst. Sie weiss es nicht. „Es ist Zeit für mich. Jetzt möchte ich einfach nur noch zurück in meine vier Wände.“ Den Einwand ihres Sohnes will sie so nicht stehen lassen. „Ich habe da doch alles, was ich brauche, kenne jeden Handgriff. Frau Lehmann kauft für mich ein, kocht und putzt. Lass mich. Lass mir meine letzten Tage, Wochen.“

 „Deine Fieber kriegen wir nicht runter. Mutter. Morgen früh fahren wir zurück. Deine Lungen gefallen mir überhaupt nicht. Dein Herz hat Mühe.“ Er ist wieder an ihr Bett getreten, legt seine Hand behutsam auf die ihre. „Fürs erste einmal kommst du zu mir. Ich will dich im Spital gründlich untersuchen lassen. Diese Köchin, alle paar Stunden hat sie nach Dir geschaut. Sie ist mir sehr besorgt erschienen, macht sich grosse Vorwürfe, fürchtet, das lange Sitzen auf dieser Parkbank sei dir nicht gut bekommen.“

„Nein, nach Hause will ich! Und ein Altenheim kommt für mich nicht in Frage! Das weisst du.“, setzt sie nach.

Er insistiert nicht weiter. Weiss, dass jedes Beharren jetzt kaum Sinn machen würde. Gestern, früh morgens ist er angekommen. Seine Mutter sei seit vergangenen Nachmittag bettlägerig. Er versteht die Sorge der Hoteldirektion nur zu gut. Längst nur noch dem Namen nach ist dies ein Kurhaus. Dennoch! Alle haben sich liebevoll um ihren Stammgast gekümmert. Dass man nicht eingerichtet und in der Lage zu längerer Krankenpflege sei, hat ihn nicht überrascht, hat ihn aber bestärkt in seinem Vorsatz so bald als für sie zumutbar mit ihr ins Tal zu fahren und ihr die unerlässliche ärztliche Betreuung zukommen zu lassen. Mit dem wenigen, was er mitgebracht hat, ist er nicht in der Lage sie fachgerecht zu untersuchen, geschweige denn zu behandeln. Trotz des besorgten Anrufs, er hat nicht ahnen können, wie schlimm es um sie steht. Auch der von der Hotelleitung herbeigerufene Hausarzt hat offenbar nicht weiterhelfen können. Deshalb noch spät in der Nacht gestern der Hilferuf.

Gemeinsam haben sie das Bett hochgestellt. Verena und er. Jetzt sitzt er neben ihr. Ihr Puls hat sich wieder etwas normalisiert. Ebenso, das Atmen, es geht wieder besser. Sie sieht ihm mit wachen Augen zu, wie er in der wenigen Post, die er von zu  Hause mitgebracht hat, blättert. Ihre Post.

„Nur einige Dankesbriefe von wohltätigen Organisationen, das Übliche eben.“ Sie kennt seine Einstellung zur Entwicklungshilfe. „Verschwendetes Geld“, hat er einmal ihre grosszügigen Spenden kommentiert. „Damit hilft man niemandem. Das sagen selbst Afrikaner, geschulte, erfahrene Wissenschaftler, welche es wirklich wissen müssten. Schult sie, ihre Forderung. Gebt ihnen Arbeit und Verantwortung und entlastet nicht euer schlechtes Gewissen mit immer noch mehr nutzlosen Spenden. Dasselbe wie in all diesen Staaten, welche vor lauter Bodenschätzen geradezu überquellen. Nur Korruption, das ist alles, was ihr mit dem vielen Geld erreicht.“

Sie hat ihn reden lassen, hat sich all dieser Schrecken erinnert, von denen ihr Mann jeweils nach seiner Rückkehr von seinen Einsätzen in den heruntergekommenen Spitälern berichtet hat. Dennoch, wie sollte sie helfen? Sie? Wie anders als mit ihren Spenden? Was sie erübrigen kann, lässt sie Hilfswerken zukommen.

„Die Rechnungen sind alle bereits bezahlt; ich habe sie nicht mitgebracht. „Haltiner, der Absender“, per US mail? Letzte Woche aufgegeben. Du, ich habe nicht gewusst, dass wir dort Verwandte haben. Soll ich Dir vorlesen?“.

Sie hat gezögert. „Schwierig zu lesen, diese Handschrift. Ich versuche gleich zu übersetzen, so gut es geht. Da schreibt dir eine Julia wegen einem „Gerhard Haltiner“, offensichtlich ihr Vater. Sie habe „attached to his will“, also bei seinem Testament eine note gefunden, man solle euch unmittelbar nach seinem Tod benachrichtigen. Er ist, so schreibt sie weiter, sehr lange krank gewesen und schliesslich bei ihr, in ihrem Haus gestorben. Sie hätten die Pflege übernommen, da Jack – ich weiss zwar nicht, wer dieser Jack ist – da Jack in der Army sei und nun von einem zum nächsten Krisengebiet geschoben werde. Sie sende entsprechend seinem Wunsch jetzt zwar diese Nachricht von seinem Tode, wisse aber leider nicht, wer Alma und Georg seien. Auf eine Abdankung und ein eigentliches Begräbnis habe man seinem Wunsch entsprechend ausdrücklich verzichtet. Seine Asche, ergänzt sie da noch, hätten sie und ihr Bruder gemäss seinem letzten Willen gestern Nachmittag über dem Hudson-River verstreut.“

Sie hat ihm nachdenklich zugehört. Er meint Tränen in ihren Augen gesehen zu haben. Mag sich auch getäuscht haben. Doch inzwischen scheint sie wieder eingeschlafen zu sein. Vielleicht versucht sie sich auch nur zu erinnern. Was weiss sie über diesen grossen Unbekannten? Verwirrt legt er den Brief zur übrigen Post und beginnt ihren Koffer zu packen, alles, was sie heute und morgen früh, bis zur Abreise, bestimmt nicht mehr brauchen wird.

Das weitherum bekannte Kurhaus. Seit an die zehn Jahre nun, hat sie immer wieder hartnäckig darauf bestanden jeweils im Sommer für mehrere Wochen hierher zu kommen. Etwas anderes ist für sie nicht mehr in Frage gekommen. Ihr besonderes Verhältnis zu dieser Köchin ist ihm nicht verborgen geblieben. Er hat sich nicht viel dabei gedacht. Hat nie nach dem Grund gefragt. Wie oft hat er seine Mutter nicht oder ganz einfach falsch verstanden. Seine hilflosen Versuche sie zu überreden mit ihnen und ihren Grosskindern nach Elba zu kommen, hat sie ein ums andere Mal strickte abgelehnt.

Nur einmal noch, damals, unmittelbar nach Vaters Tod hat sie gewünscht mit ihm zu verreisen, für einige Tage nach Mailand zu fahren. Der fantastisch anmutende Dom und all die andern Sehenswürdigkeiten aber haben sie unbeeindruckt gelassen. Nach einer Adresse in einer beliebigen Geschäftsstrasse hat sie ihn geheissen zu suchen. Gleich bei ihrer Ankunft. Als sie beide vor dem modernen Bürogebäude gestanden sind, hat sie jedoch ganz offensichtlich jedes Interesse an Mailand bereits wieder verloren gehabt und auf baldiger Heimkehr bestanden. Nur eine Nacht sind sie geblieben.

Nie mehr, auch nicht ein Wort mehr hat sie über Mailand und ihren kurzen Ausflug verloren. Sein gelegentliches Nachfragen nach der Bedeutung dieser Adresse hat sie immer wieder ins Leere laufen lassen.

Erst kurz vor der Nachtessenszeit erwacht sie und bittet ihn zu ihr ans Bett zukommen. Mit schwacher Stimme hat sie ihn vom Balkon hereingerufen.

„Es ist Zeit für mich.“ Hat sie wiederholt. „Zeit auch für das traurige Finale! Natürlich hast Du nichts von Gerhard Haltiner wissen können, hast auch nichts von all dem wissen dürfen. Das habe ich deinem Vater hoch und heilig versprechen müssen.  Und dabei ist es geblieben. Bis zu seinem Tod unser streng gehütetes Geheimnis.“ Nachdenklich, zögernd, mit unsicherer Stimme fährt sie fort: „Jetzt ist er tot, Gerhard auch. Jetzt hindert mich nichts mehr. Wie du weisst, ist Dein Vater in jungen Jahren die meiste Zeit an Spitälern quer durch Afrika beschäftigt gewesen. Bei seiner kurzen Rückkehr jeweils ist er mir von da weg wie ein Fremder erschienen. All das Elend hat ihn aufgefressen. Welche Enttäuschung, welcher Frust für mich! Damals, wie wir uns im Spital kennengelernt haben, da habe ich mich gleich Hals über Kopf in den jungen, fröhlichen und zu allen Spässen aufgelegten Assistenzarzt verliebt. Zwei Jahre haben wir unverheiratet zusammengelebt. Ich noch als Krankenschwester in derselben Abteilung. Unverheiratet! Ein Skandal zur damaligen Zeit. Unerhört! Da hätte es wenig gebracht, wenn wir unseren Eltern hätten erklären wollen, dass wir uns die Wohnung unmittelbar in Nähe des Spitals nur würden leisten können, wenn wir unsere bescheidenen Verdienste zusammenlegen. Felix, das sind unsere schönsten Jahre gewesen. Verliebt und unbeschwert haben wir unser kleines bescheidenes Lotterleben genossen. Kurz nach unserer Hochzeit aber, da hat mein Georg dann diese Dienste für die Entwicklungshilfe übernommen. Deine ersten Jahre hat er gar nicht bewusst miterlebt. Hat dich kaum wahrgenommen. Ich bin allein gewesen mit dir. Alleingelassen, auf mich gestellt. Da magst du dich nicht mehr erinnern. Gross ist unsere gemeinsame Freude gewesen, als ich dann wieder schwanger geworden bin. Nach der missglückten Geburt deiner Schwester ist er endgültig hier geblieben und hat die Praxis eröffnet. Über den Tod meines kleinen Mädchens bin ich dennoch nie hinweggekommen. Das alles kannst du nicht wissen. Für mich ist es unendlich wichtig gewesen, dich meine Trauer nie spüren zu lassen. Ich habe mir alle Mühe gegeben, für dich da zu sein. Nur für dich. Das einzige, was mir geblieben ist. Ausser der Trauer. Immer aber habe ich mir vorgestellt, wie meine Tochter jetzt aussehen würde, wie sie lachen, weinen, aufwachsen und sich am Leben freuen würde. Bin ich einem hochgewachsenen jungen Mädchen mit lockigen braunen Haaren begegnet, einem, das Julia hätte sein können, ist für mich wiederum eine Welt in sich zusammengebrochen. Unsere Ehe ist schliesslich daran zerbrochen und den Rest kennst Du.“

„Das erklärt immer noch nicht, was es mit diesem Gerhard auf sich hat.“

Ist sie wieder eingeschlummert? Hat sie sich überfordert? Hat die Vergangenheit sie eingeholt?

Nach einer langen Pause fährt sie fort. „Deinem Vater habe ich versprochen, dir nie von Gerhard zu erzählen. Vaters und sein Tod entbinden mich von diesem Versprechen. Vater ist nicht dein Vater. Gerhard ist sein Zwillingsbruder, sein Zwillingsbruder gewesen. Unsere drei verbotenen Tage, Gerhards und meine, Felix, hier in diesem Kurhaus, darum gibt es dich. Diese Tage sind für mich unvergesslich. Gerhard ist für mich plötzlich all das gewesen, was ich an meinem Mann in unseren ersten Jahren so geliebt und später so schrecklich vermisst habe. Fröhlich, liebevoll, voller Zärtlichkeit und Hingebung ist er gewesen. Nach diesen drei Tagen ist er wieder nach Mailand zurückgekehrt. Wir haben nie mehr voneinander gehört. Und ich habe gebüsst, mein ganzes Leben lang. Gebüsst auch mit dem unverdienten Tod unserer Tochter, Georgs und meiner Tochter. So habe ich mir das in meiner Verzweiflung zu Recht gelegt. Nur so habe ich lange Zeit diesen Schicksalsschlag verstehen können. Georg, ungefragt hat er dich als seinen Sohn anerkannt und das ohne dich je in Frage zu stellen. Er hat mir zur einzigen Bedingung gemacht, dass es Gerhard, für mich, für uns, für Dich nie gegeben hat. Dein Vater und damit meine ich wirklich Georg. Er hat dich geliebt, hat alles in seiner Macht stehende für dich getan. Du willst es noch heute nicht glauben. Dass du seine Praxis nicht weitergeführt hast, das hat er dir bereits lange vor seinem Tod verziehen. Verziehen, als er erst einmal begriffen hat, dass du nicht feige den endlosen rücksichtslosen Anforderungen einer Allgemeinpraxis auf dem Land hast ausweichen wollen. Sondern dass auch in dir das Feuer gebrannt hat und dass du deine Zukunft eben als Chirurg und als eifriger Lehrer deiner Studenten und eben nur als das gesehen hast. Ja, du hast ihm, uns den Rücken gekehrt. Und dennoch, unsere letzten vier gemeinsamen Jahre, Georg und ich, als wir endlich wieder zueinander gefunden haben, sie sind unser spätes Glück gewesen. Haben uns entschädigt dafür, was wir in jungen Jahren leichtfertig aufgegeben haben. Weil mir nicht mehr weiter gewusst haben.“

Als Verena nach ihrem kurzen Urlaub die Todesanzeige in den Händen hält, da ist Alma bereits seit einer Woche tot und ihre Asche in alle Winde verstreut gewesen.





*pcf 2012.

Der Küster



Tauben flatterten vor ihm auf, liessen sich jedoch sogleich wieder nieder, suchten zwischen den Pflastersteinen zielsicher weiter nach Fressbarem. Das Gehen bereitete ihm seit einigen Tagen Mühe. Vom Frisör zum Dom waren es nur wenige Schritte. Jeden Freitag liess er sich seinen inzwischen eher schütter nachwachsenden Bart rasieren; alle 2 Wochen war zusätzlich Haarschneiden angesagt. Seine bescheidene Eitelkeit; nicht, dass er sich nicht täglich selbst sorgfältig rasieren würde. Doch einmal die Woche vertraute er sich dem Fachmann an. Seit auch er im Ruhestand angelangt war, und das waren nun doch schon weit über zehn Jahre, vermittelten ihm dieses und ähnliche Rituale und die übrige tägliche Routine das unentbehrliche Stückchen Lebensinhalt. 

Stille und willkommene Kühle umfing ihn. Noch lag entrückender Duft nach Weihrauch vom der Frühmesse in der romanischen Basilika. Nur spärlich aber dennoch gerade ausreichend drang das Tageslicht durch die schmalen Fenster in den Seitenschiffen. Beim Altar flackerte unbeirrt das ewige Licht. Linke Seite, dritthinterste Reihe und unmittelbar neben dem mächtigen sandsteinernen Pfeiler, immer freitags um elf, auch dies eine seiner Routinen. Er war weder katholischen Glaubens noch gläubig im wirklichen Sinn. Doch seit dem viel zu frühen Tod seiner innig geliebten Marianne fand er hier Ruhe und Einkehr.

Dass er sich bis Mitte des Jahres nach einem andern Barbier würde umsehen müssen, bedrückte ihn. Ganz unerwartet hatte ihn heute Morgen diese Nachricht getroffen. Er hatte den immer zu einem Schwätzchen bereiten, gebildeten und inzwischen ebenfalls ergrauten Herrn Meyer über all die Jahre schätzen gelernt; ein Wechsel, und dies gerade, jetzt war ihm zutiefst zuwider.

Schuldbewusst nahm er seine Schuhe von der Kniebank, als er vom Eingang her Schritte kommen hörte. Nein, zum Beten würde er eine Kirche nie betreten, schon gar nicht eine katholische. Das Beten war ihm längst abhandengekommen und  war zudem etwas für kleine Kinder! Und dennoch hielt er hier und nur hier jeweils andächtig Zwiesprache mit Gott, dessen Existenz er immer verneint hatte und die er ihm auch heute noch aberkannte. Widerwillig nur hatte er seine Marianne, wohlerzogene Tochter aus strenggläubigem Pfarrhaus, gelegentlich zum sonntäglichen Gottesdienst begleitet. Ja eisern hatte auch sie an ihren Ritualen festgehalten, und dies schon in jungen Jahren und nicht erst als greise Frau.

Er drehte sich nicht nach den verhaltenen Schritten um. Hatte es nie getan, war überzeugt, dass sie ihn beim diesem wohltuenden Zwielicht über all die Jahre auch nie wahrgenommen hatte. Wie hatte sie sich doch verändert und doch hatte er sie gleich wiedererkannt, auch nach den nun bald fünfzig Jahren. An einem Freitag - wie heute -hatten sie sich getrennt. Eine kurze Auszeit hatten sie sich bloss nehmen wollen. Sie seiner überdrüssig geworden? Aber nein doch, seine Liebe war nicht eine einseitige gewesen, davon war er auch heute noch überzeugt. Sie hatten sich wahrhaftig geliebt. Der Streit dann, aus heiterem Himmel - welch lächerliches Gezänke hatte sie damals vom Zaum gerissen. Und dennoch, Etliches in ihrer Beziehung war schon länger nicht mehr zum Besten gestellt gewesen. Schliesslich hatte sie ihre Freiheit wiedergewollt, wenn auch nur für absehbare Zeit, so hatte sie ihm unmissverständlich zu verstehen gegeben. Allerdings hatten sie nicht mehr zueinander zurückgefunden und sich schliesslich gänzlich aus den Augen verloren.

Und dann, welch ein Zufall? Ja, gewiss, auch an einem Freitag war es gewesen. Da hatte sie sich drei Bankreihen vor ihm nieder gelassen. Von da weg schien auch sie zu ähnlicher Routine gefunden zu haben. Oder hatte er sie bis dahin einfach nicht bemerkt? Kam sie bloss freitags oder auch an andern Wochentagen her? Meist verliess sie einiges vor ihm die Kirche wieder. Wenn Sie ihm dann entgegenkam. Diesen Augenblick hätte er sich nie entgehen lassen. Trotz der Dunkelheit! Ihre rabenschwarzen Haare, einst, und heute waren sie erst von wenigen silbernen Strähnen durchwirkt. Ihre markanten Gesichtszüge noch immer unverkennbar. Ihre grossen dunklen Augen schienen mit dem Alter noch an Ausdruck gewonnen zu haben. Sie ging gebückt, benutzte  seit einigen Wochen gar einen Gehstock. Besorgt hatte er dies bemerkt. Ihr Blick meist starr zum Ausgang hin gerichtet. Ob sie ihn wohl noch erkannt hätte; auch an ihm hatten die Jahre das Ihrige getan. Er erschrak jeweils heftig, wenn er sich zufällig auf einem der Fotos seiner Tochter entdeckte.

Freitag um Freitag, Woche für Woche hatte er sich vorgenommen sich ihr erkennen zu geben. Und... Er hatte es nie getan. Bisher! Hatte nicht gewagt sie anzusprechen, wollte nicht noch einmal an alte Trauer anknüpfen. Was zu spät war, und es war schon Jahrzehnte zu spät, dabei musste man es bewenden lassen!

Seit drei Wochen nun schon war sie nicht mehr erschienen. Er war besorgt. War sie krank geworden? War sie bloss im Urlaub, vielleicht bei einem ihrer Kinder? Waren ihr Söhne, Töchter überhaupt je vergönnt gewesen? Ihr wenigstens? Was wusste er schon über sie? Wohnte sie gleich hier um die Ecke oder kam sie mit der S-Bahn aus einem der zahlreichen Vororte hergefahren?

Sie erschien auch heute nicht. Wie sehr hatte er sich doch vorgenommen ihr heute wirklich zu folgen, sie vor der Kirche anzusprechen. Was hatte sie aus ihrem Leben gemacht, wie ging es ihr, was hatte sie regelmässig hierher geführt? Auch sie war nicht Katholikin. Oder vielleicht inzwischen doch? Ja, was wusste er schon über Sie?

Mühsam hatte er sich aus der Kirchenbank erhoben. Der Küster war wie immer um diese Zeit mit dem Einordnen der Gesangsbücher für die kommenden Gottesdienste des Wochenendes und mit dem Anordnen der vielen Mitteilungen auf dem Schwarzen Brett beschäftigt. Sie beide kannten sich nicht mit Namen, und doch grüssten sie sich jeweils freundlich. Wie alte Bekannte. Oft ergab ein Wort das andere.

Ob er, der Küster die ältere Frau kenne, die auch regelmassig freitags hier zum Gebet erscheine und die er jetzt schon länger nicht mehr gesehen habe?

"Meinen's denn die Frau Falke, die feine Dame, die mit dem Stock, die auch immer zum Beten herkommt.  Was sag ich auch? Herkommen ist! Ach herrje. Aber die müssten's doch eigentlich gekannt haben. Sie hat doch auch nach Ihnen gefragt,  hat doch auch Ihren Namen gekannt. Hab erst gar nicht gewusst, wen sie gemeint hat. Ja die Frau Falke, sie hat wissen wollen, wo sie denn so lange geblieben sind. Damals über die Weihnachtstage, als sie einen ganzen Monat lang nicht hergekommen sind. Ich hab's selbst ja gar nicht bemerkt, dass Sie so lang wegblieben sind.“

Der Küster, seine Aufregung kann er kaum verbergen, hat mit seiner Arbeit innegehalten.

„Erst als sie mich gefragt hat, ja, da ist‘s mir dann auch aufgefallen. Aber haben's denn nicht gewusst, dass gute Frau Falke vorige Wochen gestorben ist? Hab doch erst noch ihre Todesanzeige gelesen. Da muss sie gewesen sein. Trauerfeier in der reformierten Theodorskirche? So was! Um Gottes Willen, das versteh nun aber einer. Eine Reformierte, so was! Hier bei uns? Da hab ich ja die Welt nimmer verstanden. Kommt jede Woche zum Beten her. Schon komisch, nur zum Beten! Und ich hab sie nie im Gottesdienst gesehen. Beim Beichten auch nicht. Ja, die gute Frau Falke. Tut mir leid, dass Sie das nicht gewusst haben, das mit ihrer Krankheit. Hab doch wirklich gemeint, Sie hätten sie näher gekannt."

Er war ihm noch nachgeeilt, hielt ihm jetzt eilfertig die schwere Kirchentür auf. "B‘hüets Gott denn! Und nichts für ungut!"




*pcf 2012.

Kirkegate



Inzwischen war es bereits April geworden, Ostern vorbei. Seine Abreise hatte sich dann doch noch verzögert. Trotzdem, viel zu schnell war alles gekommen!

Wolken hatten sich bereits wieder vor die schwache Frühjahrssonne gestellt; der Wind heulte unbarmherzig um die verwinkelten Gassen der Altstadt. Kleine, harte Schneekrümel trieb er vor sich her. Der Fjord grau in grau und der Übergang vom Wasser zum Himmel kaum auszumachen.

Wie anders, einst bei ihrem ersten Treffen, damals in der Mensa. Eine strahlende Sonne schien die letzten noch unschlüssigen Triebe zum Wachsen anzutreiben. Ein Frühlingstag voller Versprechungen! Die ersten Obstbäume hatten geblüht. Windjacken und schweres Schuhwerk waren weggeräumt. Nichts sehnlicher erwartete man jetzt als endlich wieder die Sommergarderobe hervorzuholen.

Sie hatte darauf beharrt mitzukommen. Und jetzt sassen sie im Flybuss. Bücher, vor allem seine Bücher, dazu einige wenige Erinnerungen, auch die meisten Kleider hatte er bereits früher zurückgesandt. Ein grosser dunkelroter Hartschalenkoffer, allerdings dennoch zum Bersten gefüllt. Und dann das übliche Handgepäck, Laptop, Fotoapparat. Trotz allem ernüchternd wenig, eingedenk ihrer drei gemeinsamen Jahre! Sie sah ihm erschöpft nach, als er sich durch die Menge unschlüssig Wartender einen Weg zum Check-In bahnte.

Das kleine Päckchen hatte sie ihm in letzten Augenblick zugesteckt und ihm sogleich auch das Versprechen abgenommen mit dem Auspacken zu warten, bis er zuhause angekommen wäre.  

Flüchtig hatten sie sich geküsst. Ebenso rasch hatte sie sich abgewandt, dann war sie bereits in der Menge untergetaucht. Insgeheim hatte sie gehofft, er würde sich vor dem Sicherheits- Check In nochmals nach ihr umgedrehen. Doch sie hatte es nicht über sich gebracht nochmals inne zu halten. Ein hochgewachsener Mann, braun gebrannt, lange blonde Haare, unverschämt blaue Augen. „Wikinger“ hätten sie sich zugeraunt. Herausfordernd lächelte dieses imponierende Wesen ihr zu. Sie sah unwillig weg. Hatte er ihren Abschied mit verfolgt, ihre Tränen gesehen? Oder hatte er sie für die begehrenswerte Südländerin gehalten, die sie ja gar nicht war? Immer wieder wurde sie auf ihre dunkelbraunen, fast schwarzen Augen, ihre ebensolchen Haare, ihre markanten Züge, ihr hier so gar nicht alltägliche Erscheinung angesprochen.  

Ihre vier Wände kamen ihr unwirklich leer und verlassen vor. All die gewohnten Geräusche umfingen sie sogleich wieder und trotzdem erschienen ihr ihre Wohnung plötzlich fremd. Das eine Abflussrohr schepperte, immer noch, obwohl der Hauseigentümer längst Besserung versprochen hatte. Auf dem Dachfirst des Nachbarhauses zwei laut gurrende Tauben. Wie hatte er sich doch über die undichten und ringhörigen Fenster geärgert. Sein ökologisch geschärftes Gewissen hatte diese notorische Energieverschwendung nicht verstehen können. „Traditionelle Bauweise eben“, mehr als einmal hatte sie ihm dies geduldig zu erklären versucht, hatte ihm Fenster alter, mehr als hundertjähriger Häuser gezeigt, der Häuser, welche dem grossen Brand damals nicht zum Opfer gefallen waren. Nebenan, das schwedische Pärchen, es schien wieder zueinander gefunden zu haben. Das übliche Keifen jedenfalls hörte sich um Greifen nahe an. Ebenfalls Studenten, die beiden, in den letzten Semestern, hatten sie ihr zu verstehen gegeben. Offenbar gehörte es inzwischen zum guten Ton seinen Abschluss gerade hier und nicht an einer der andern grossen Universitäten Skandinaviens zu machen. Selbst Deutsche, Österreicher, Schweizer, Holländer, sie folgten inzwischen diesem Trend.

Auch er war als einer dieser Zugvögel hergekommen. Und nun war alles bereits Vergangenheit. Sein Diplom kaum in der Tasche, hatte er das Weite gesucht. War das mit ihnen alles bloss ein grosser Irrtum gewesen? Diese bange Frage liess sie nicht mehr los. Begonnen jedenfalls hatte alles tatsächlich mit einem grossen, peinlichen Irrtum. Oft hatten sie später darüber lachen können. Über die Internetplattform der Hochschule hatte sie geglaubt endlich wieder eine Untermieterin gefunden zu haben. Gross war ihre Überraschung gewesen, als sich die vermeintliche Andrea als neu zugezogener, selbstsicherer, adretter Kommilitone in einem der späteren Semester entpuppte. Inzwischen wusste sie natürlich, dass man auch der Endung deutscher Vornamen das Geschlecht seiner Träger nicht zweifelsfrei zuordnen kann. Obwohl für ihre Zweier-WG bisher ausschliesslich Mitbewohnerinnen in Frage gekommen waren, schnell waren sie sich dann doch handelseinig geworden. Sie konnte sich seinem natürlichen Charme nicht entziehen, mochte ihn und war gleich angetan gewesen von seiner fröhlichen unbekümmerten Art. Seine letzten Semester gedachte er hier zu studieren, war jedoch bereits zu Beginn der Semesterferien angereist um vorgängig noch einen Sprachkurs zu belegen. Zweifellos hätte er sich mit seinen Englischkenntnissen bestens durchschlagen können. Ihr imponierte sogleich sein unbändiger Wille sich in Sitten und Gebräuche des Gastlandes rasch einzuleben und sich zu offiziellem Semesterbeginn auch leidlich in der Landessprache verständigen zu können.

Ihr erstes Beschnuppern war äusserst kurz ausgefallen. Denn für ihre Semesterferien hatte sie, voraussichtlich zum letzten Mal während ihres Studiums, auf einem der Postschiffe angeheuert. Dank ihrer Sprachkenntnisse war sie während der Touristensaison an der Rezeption und im Office dieser Schiffe willkommene Mitarbeiterin. Alle zweiundzwanzig Tage war Landurlaub angesagt und sie staunte jedes Mal mehr bei ihrer Rückkehr über die sprachlichen Fortschritte ihres neuen Mitbewohners. Bald konnten sie sich problemlos in ihrer eigenen Sprache verständigen. Sie begann sich auf ihre jeweiligen Wiedersehen regelrecht zu freuen, konnte es kaum erwarten wieder mit ihm ihre Wohnung zu teilen. Bald wurde es auch für Freunde und Bekannte offensichtlich, dass aus der WG mehr als eine Vernunftgemeinschaft geworden war.

Und dann, mit dem Abschluss seiner Studien, die bittere Einsicht. Früh hatte er sich umgesehen. Doch seine eifrigen Bemühungen hatten sich zerschlagen. Eine Stelle, welche seiner inzwischen abgeschlossenen Ausbildung auch nur in Ansätzen gerecht geworden wäre, war auf die Schnelle hier in der Region nicht zu finden gewesen. Mitten in seine verzweifelte Suche war unverhofft ein Angebot jenes Unternehmens eingetroffen, bei welchem er früher in seiner Heimat mehrfach als Student teilzeitig gearbeitet hatte. Er konnte sich dieser einmaligen Gelegenheit nicht entziehen; daran gab es auch für sie keinen Zweifel. Gleichzeitig war ihre temporäre Stelle am Universitäts- Institut in eine unbefristete umgewandelt worden. Sie hatte sich künftig um internationale Koordination mit ähnlich orientierten Forschungsinstitutionen und mit der Realisierung der regelmässig hier stattfindenden Kongresse zu befassen. Nein, weder sie noch er konnten sie ihre jeweiligen Angebote ausschlagen. So blieb ihnen nur die Trennung. Wenn auch auf Zeit, damit hatten sie sich in den vergangenen Wochen ihres Abschieds auf Raten getröstet. Bald würde er sie besuchen kommen und Weihnachten wollte sie bei ihm und seinen Eltern verbringen. Heute hatte er der Kirkegate den Rücken gekehrt, vorerst endgültig. Doch die Hoffnung stirbt zuletzt. Dennoch, sie liess ihren Tränen, ihrer Verzweiflung freien Lauf. Bald würde ihre jüngere Schwester seinen Platz in der WG einnehmen.

Unten fiel eine Tür ins Schloss.

* * *

Die Räumung zog sich hin. Sein Bruder war ebenso ausgelastet wie er, hatte sich zudem mit seiner Frau noch in die Betreuung ihres Neugeborenen zu teilen. Nach dem unerwarteten Tod des Vaters hatte ihre Mutter dem längst fälligen Umzug ins Altersheim zugestimmt. Eine eigene Nutzung des grossen Hauses kam weder für die junge Familie noch für ihn selbst in Frage. So blieb ihnen nur die Räumung; sie planten das Haus rasch möglichst zu vermieten.

Etwas fiel zu Boden. Erst konnte er sich keinen Reim darauf machen weder, was das Päckchen zuoberst auf seinem ehemaligen Büchergestell zu bedeuten hatte, noch wie es dahin gekommen war! „Kirkegate steht Dir immer offen“, sein ehemaliger Schlüssel! Wie überhaupt hatte er das vergessen können? Ihr Abschiedsgeschenk! „Erst zuhause öffnen“, darauf hatte sie bestanden. Und erst einmal zuhause angekommen hatte er es gar nicht geöffnet! Unmittelbar nach seiner Heimkehr war das mit seinem Vater geschehen. Notfallarzt, Ambulanz, die Angst um den von einem Schlaganfall Getroffenen, die Verzweiflung seiner hilflos überforderten Mutter, die Zeit in der REHA. Trotz all dieser Widrigkeiten, um wenige Wochen nur hatte man ihm vor seiner Abreise zum Trainingsaufenthalt in die USA Aufschub gewährt. Dass man mit ihm gleich von vorne weg solche Pläne gehabt hatte, davon war bei seiner Einstellung noch keineswegs die Rede gewesen. An Normalität jedenfalls war nach seiner Heimkehr nicht mehr zu denken gewesen. Und so musste er in einem unbedachten Augenblick ihr noch ungeöffnetes Geschenk wohl weggelegt und vergessen haben. Warum aber hatte Kjerstina ihn nie danach gefragt?

Der halbjährige Aufenthalt im Stammhaus seines Arbeitgebers und gleich anschliessend seine intensive Reisetätigkeit hatten ihre Pläne baldigen Wiedersehens vollends zunichte gemacht. Zudem, Silvia hatte sich ihm gleich nach seiner Heimkehr wieder aufgedrängt, hatte nicht verstehen wollen, dass sie nicht dort wieder hätten anknüpfen sollen, wo vor drei Jahren Schluss gewesen war.

Neun Jahre waren seit den missglückten Weihnachtsferien inzwischen vergangen. Unschwer konnte er sich auch jetzt noch, nach so langer Zeit, Kjerstinas massloser Enttäuschung und ebenso seiner hilflosen Schuldgefühle entsinnen, als er sie Silvias wegen sogar an Heiligabend seinen Eltern hatte überlassen müssen. Nicht dass er Kjerstina damals den wahren Grund für sein plötzliches Verschwinden genannt hätte. Schäbige Ausflüchte, ein unerwartetes Meeting, die Wahrheit jedoch hatte sie sich wohl unschwer zusammenreimen können! Entsprechend frostig später sein Empfang in der Kirkgate ausgefallen. Sie hatte nicht den geringsten Einwand erhoben, als er von vorneherein ein Hotelzimmer gebucht und nicht bei ihr zu übernachten gedacht hatte. Statt eines gemütlichen Beisammenseins, das gemeinsame Nachtessen mit ihren Freundinnen, Freunden und Arbeitskollegen. Sonntag und Montag dann war er auf sich allein gestellt gewesen; sie hatte unerwartet eine Geschäftsreise anzutreten gehabt. Zufall oder hatte sie einen Vorwand gesucht? Ausrede oder nicht, warum hatte er sie nicht darauf angesprochen? Ja, warum hatte er ihr Verschwinden damals unwidersprochen hingenommen? Wo war ihre Vertrautheit, ihre Aufrichtigkeit, ihre Liebe geblieben? Hatten sie sich leichtfertig aufgegeben oder hatte ihnen trotz ihrer drei Jahre schliesslich doch ein stabiles Fundament für ihre Beziehung gefehlt?

Ein weiteres Widersehen hatte es nicht mehr gegeben. Ihre Anrufe waren rasch seltener geworden. Auch ihr anfangs so lebhafter Mailverkehr war schliesslich versiegt. Sein letztes Mail an sie war einen Tage nach dessen Versand als unzustellbar gekennzeichnet von seinem Provider zurückgesandt worden.

Und damit hatte er es bewenden lassen.

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Ihren Briefkasten fand sie nach ihrer Rückkehr übervoll. Sie war unmittelbar vor Weihnachten von ihrer Geschäftsreise nachhause zurückgekommen. Erst als sie die sorgfältig sortierte Korrespondenz auf ihrem Küchentisch entdeckte, erinnerte sie sich daran, dass ihre Kollegin ja bereits seit einigen Tagen selbst verreist war und sich ihres Briefkastens nicht mehr hatte annehmen können. Die Weihnachtskarte von Andrea war ihr offensichtlich entglitten, als sie Koffer, Handgepäck und Post, alles wieder einmal gleichzeitig, hatte hereintragen wollen.

Vertriebsleiter für Europa und den Nahen Osten, boomende Geschäfte durch all die neu erschlossenen Öl- und Gasfelder, der Vater gestorben, der schlechte Gesundheitszustand seiner Mutter, einige Anekdoten von seinen Patenkindern. Kein Wort über Silvia, seine Verlobte, heute wohl längst oder vielleicht schon nicht mehr seine Ehefrau. Fakten, aber kaum Persönliches, höchstens die höfliche und beinahe selbstverständliche Frage nach ihrem Befinden. Völlig unerwartet jetzt, sein Lebenszeichen! Nach all den langen Jahren. Was ihn wohl dazu bewogen hatte sich wieder zu melden. Ihm jetzt noch eine Weihnachtskarte senden? Sie würde keinesfalls mehr rechtzeitig eintreffen. Und wozu auch? Sie dachte nicht daran noch einmal dort anzuknüpfen, wo ihr damals nichts geblieben war als bittere Enttäuschung. Sie hatte ihren Beruf und immer neue Herausforderungen warteten auf sie. Zudem erst ihr überstürzter Hauskauf und jetzt noch der aufwändige Umbau. Ihre Wohnung hatte sie nun mit der nebenan liegenden vereint. Auch die übrigen Wohnungen waren inzwischen auf neuen Stand gebracht worden. Für mehr war und blieb ihr kaum Zeit. Bei einem internationalen Kongress einst, da hatte sich eine interessante Bekanntschaft ergeben. Doch diese hatte letztlich zu nichts als einem heftigen Briefwechsel geführt und dieser war verebbt, als sie zufällig und über verschlungene Umwege von seinen wahren Familienverhältnissen erfahren hatte.

Die drei Zeilen, sie hatte sich nach langem Zögern doch noch dazu entschlossen, sie waren nichts weiter als nichtssagend und kaum mehr eine als höfliche Geste. Aber immerhin!

Andreas Karte zu ihrem Geburtstag traf sie wiederum unvorbereitet, hatte sie doch kaum mehr mit einer Fortsetzung dieses sinnlosen Informationsaustausches gerechnet. Seinen Fragen nach ihrem Befinden diesmal jedoch eingehend und bestimmt. Aber sie mochte Vergangenes nicht noch einmal aufgreifen. Zu traurig, das Scheitern ihrer so hoffnungsvoll begonnen Beziehung. Die schreckliche Erkenntnis bei ihrem ersten Besuch in seiner Heimat! Ein Irrtum, so hatte alles begonnen und so hatte es geendet, in nichts als einem schwarzen Loch!     

Seinem Wunsch nach ihrer neuen Mail-Adresse kam sie erst nach nochmaliger Nachfrage seinerseits nach. Logisch, dass ihre bisherige Adresse bei der Universität schliesslich gelöscht worden war, hatte sie doch längst ganz in das neue privatwirtschaftlich geführte gleichnamige Institut gewechselt und war inzwischen zu dessen Leiterin aufgestiegen.
   
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Nordwind ist aufgekommen; er treibt das erste Herbstlaub vor sich her, verspricht aber gleichzeitig einige Tage schönen jedoch kalten Wetters. Nachdenklich geht er die Kirkegate hoch. Ihr heutiges Gespräch, alte Kollegen, ihre gemeinsamen Erinnerungen. Doch die erhaltene Bestätigung seiner insgeheimen Vermutung lassen ihn nicht mehr los. Er hat kaum Augen für den Fjord, der sich inzwischen stahlblau und aufgewühlt vor ihm ausbreitet. Er blickt auf. Hat sie ihn erkannt, hat sie ihn deshalb gegrüsst? Nicht anzunehmen – er sieht der grauhaarigen Frau nach. Neun Jahre sind eben doch eine lange Zeit!  

Kaum wieder zu erkennen, das behäbige altehrwürdige Haus. Seit einigen Jahren gehört es ihr, so hat sie kürzlich geschrieben. Das Haus, bergseitig, von der Strasse etwas zurückgesetzt gelegen – für ihn unvergessliche Erinnerung an ihre kostbare gemeinsame Zeit. Fünf Briefkästen, vereint mit einer weiteren Box für Klingeln, Gegensprechanlage und Videokamera, zu einem rechteckigen, chromglänzenden Block. Nicht mehr die schiefe, schändliche Ruine von damals. Eines Tages hatte der Sturm die rostigen Türen aufgerissen. Er kann sich noch gut ihres Schreckens erinnern, hatten sie doch befürchtet, die lang ersehnte Zusage auf eine seiner unzähligen Stellenbewerbungen sei mit der übrigen Post in alle Himmelsrichtungen verteilt worden und nicht mehr auffindbar. Die Hausfassade hat sie sorgfältig restaurieren und die fantasievolle Architektur durch unterschiedliche Einfärbung des Holzwerks geschickt hervorheben lassen.

„Mir Deinem Schlüssel kommst Du nicht mehr weit: Natürlich haben wir jetzt eine zeitgemässe Schliessanlage, wie es sich gehört…“ Und ihre ehemalige, gemütliche Studentenbude nur noch eine Erinnerung? Einzig der alte Troll wacht noch treu und unbeirrt wie eh über den Zugang zum Haus. Als sei es für ihn auch noch heute ganz selbstverständlich, greift er hinten in die geschnitzte Halskrause und entnimmt den hinterlegten Schlüssel zu der derzeit gerade freien Wohnung im Erdgeschoss. „Kannst dort bleiben, solange es Dir gefällt, solange, bis neue Mieter dort einziehen…“ Ihre eigene Wohnung hat sie ihm nicht angeboten, gleichzeitig aber seinen Vorschlag ein Hotelzimmer zu buchen vehement abgelehnt. Drei aussichtslose Tage. Sie längst in einer festen Beziehung! Was hat er sich denn erträumt? Drei sinnlose Tage! Freitag, heute, nur bis Montag wird er bleiben und dann zur neu in Betrieb genommenen zentralen Ölaufbereitung aufbrechen. Eine der grössten Investitionen der letzten Jahre in die Zukunft des aufstrebenden Landes.

Er ist trotz des ausgiebigen Mittagessens, zu welchem ihn sein Freund aus der Studentenzeit grosszügig eingeladen hat, noch viel zu früh. Kjerstina leitet heute ein internationales Kolloquium, hat aber zugesagt abends mit ihm essen zu gehen.

Jetzt zweifelt er mit gutem Grund daran, ob die insgeheime Hoffnung, welche ihn zu diesem Abstecher veranlasst hat, nicht doch auf Sand gebaut ist? Als könnte man Vergangenes ungeschehen machen; was hat er noch zu erwarten, er, der seine Chance leichtfertig verspielt hat. Leichtfertig? Jedenfalls haben, wenn er zurückblickt, in den letzten Jahren für ihn bloss Beruf und Karriere gezählt. Und heute? Sein vorläufiges Karriereziel hat er immerhin erreicht!

Sein Freund aus der Studentenzeit hat das Gerücht um Kjerstinas feste Beziehung zwar weder bestätigen noch in Abrede stellen wollen: „Ja, man sieht sie oft zusammen. Er soll ihr Mitarbeiter sein und Grund gemeinsam unterwegs zu sein, dürften sie damit wohl genügend haben.“ Warum keine Aufforderung bei ihr zu überachten? Darum ihre unverbindlich gebliebenen Mails. Blendet sie ihre gemeinsame Geschichte hartnäckig aus. Kein Wort, auch nicht eine Andeutung, wie es ihr ergangen ist, wie es heute um sie steht!

Hat er seine Chance verspielt? Endgültig?

Er wählt den längeren und weniger beschwerlichen Weg den Berg hoch. Immer weiter reicht jetzt die Sicht auf den Fjord mit seinen zahllosen Schären und verliert sich letztlich im nachmittäglichen Dunst. Gegen Mittag endlich hat sich die Sonne gezeigt. Ihr Kolloquium findet seinen Abschluss oben, auf dem Hausberg und dort, so hat sie vorgeschlagen, möchte sie ihn auch treffen.

Eine Unmenge an Gästen, alle mit den üblichen Rollkoffern und Laptop-Taschen, stehen an der Bergstation zur Talfahrt bereit. Offensichtlich Teilnehmende der eben zu Ende gegangenen Tagung. Von Kjerstina keine Spur. Vergeudete, lange Jahre – die Zeit wird an ihnen beiden nicht spurlos vorbeigegangen sein. Er hält sich diskret im Hintergrund, erwartet sie dennoch voller Neugierde in der grosszügigen Halle des Bergrestaurants. Schliesslich schaut er sich nach dem Auditorium um, hofft sie dort zu finden.

Dann entdeckt er sie. Lachend tritt sie hinter einem mächtigen Blumen-Arrangement
hervor. Hat auch sie ihn erst begutachten wollen? Sie scheint sich ertappt zu fühlen, fängt sich aber gleich wieder. Ihr neckisches Ponytail ist einer strengen Pagenfrisur gewichen. Hat sich ihre verspielte Frisur nicht mehr mit ihrer hierarchischen Stellung vereinbaren lassen – oder eben bloss ein eindringlicher Wunsch ihres neuen Freundes oder Partners? Sogleich nehmen ihn ihre grossen, einnehmenden Augen gefangen.

Sie rückt einen weiteren Stuhl zurecht und stellt unbefangen die beiden Männer einander vor. Also stimmt offensichtlich das hartnäckige Gerücht! Erst tauschen die beiden ihre Eindrücke von der Tagung aus, sind offensichtlich zufrieden mit dem Erreichten. Er fühlt sich ausgeschlossen. Dann unverbindlicher Smalltalk. Er beteiligt sich halbherzig, macht aber gute Miene zum sinnlosen Geplapper. Und, er wird sein hoffnungsvolles Geschenk für sie unverrichteter Dinge wieder nachhause tragen. Ein Schlüssel zu seiner eigenen Wohnung, sorgfältig verpackt in Geschenkpapier. In ihrem Geschenkpapier, das sie selbst einmal benutzt hat um seinen Schlüssel einzuhüllen! Wozu auch diese sinnlose Geste? Was hat er sich davon erhofft?

Dass der junge, attraktive Mann bereits vor der Mittelstation der Standseilbahn einen seiner Schlüssel zückt, verwirrt ihn. Und dann ist er auch bereits ausgestiegen und winkt ihnen fröhlich zum Abschied. Das betagte Stationsgebäude, wie oft sind sie auf der Suche nach den ersten fahlen Sonnenstrahlen von hier aus den Höhenweg entlang gewandert!

Wie früher, sie trägt wieder einen dunkelblauen Mantel, der ihr so gut steht. Ihr unverkennbarer Duft, als sie ihren Kopf in seine Halskule legt. Ihr Arm hält ihn umfasst. All ihre verlorenen Jahre zu einem einzigen belanglosen Augenblick geschrumpft. Vergangenheit, welche der Gegenwart weicht und vielleicht eine Zukunft hat.


*pcf 2012.