Dienstag, 13. November 2012

Kirkegate



Inzwischen war es bereits April geworden, Ostern vorbei. Seine Abreise hatte sich dann doch noch verzögert. Trotzdem, viel zu schnell war alles gekommen!

Wolken hatten sich bereits wieder vor die schwache Frühjahrssonne gestellt; der Wind heulte unbarmherzig um die verwinkelten Gassen der Altstadt. Kleine, harte Schneekrümel trieb er vor sich her. Der Fjord grau in grau und der Übergang vom Wasser zum Himmel kaum auszumachen.

Wie anders, einst bei ihrem ersten Treffen, damals in der Mensa. Eine strahlende Sonne schien die letzten noch unschlüssigen Triebe zum Wachsen anzutreiben. Ein Frühlingstag voller Versprechungen! Die ersten Obstbäume hatten geblüht. Windjacken und schweres Schuhwerk waren weggeräumt. Nichts sehnlicher erwartete man jetzt als endlich wieder die Sommergarderobe hervorzuholen.

Sie hatte darauf beharrt mitzukommen. Und jetzt sassen sie im Flybuss. Bücher, vor allem seine Bücher, dazu einige wenige Erinnerungen, auch die meisten Kleider hatte er bereits früher zurückgesandt. Ein grosser dunkelroter Hartschalenkoffer, allerdings dennoch zum Bersten gefüllt. Und dann das übliche Handgepäck, Laptop, Fotoapparat. Trotz allem ernüchternd wenig, eingedenk ihrer drei gemeinsamen Jahre! Sie sah ihm erschöpft nach, als er sich durch die Menge unschlüssig Wartender einen Weg zum Check-In bahnte.

Das kleine Päckchen hatte sie ihm in letzten Augenblick zugesteckt und ihm sogleich auch das Versprechen abgenommen mit dem Auspacken zu warten, bis er zuhause angekommen wäre.  

Flüchtig hatten sie sich geküsst. Ebenso rasch hatte sie sich abgewandt, dann war sie bereits in der Menge untergetaucht. Insgeheim hatte sie gehofft, er würde sich vor dem Sicherheits- Check In nochmals nach ihr umgedrehen. Doch sie hatte es nicht über sich gebracht nochmals inne zu halten. Ein hochgewachsener Mann, braun gebrannt, lange blonde Haare, unverschämt blaue Augen. „Wikinger“ hätten sie sich zugeraunt. Herausfordernd lächelte dieses imponierende Wesen ihr zu. Sie sah unwillig weg. Hatte er ihren Abschied mit verfolgt, ihre Tränen gesehen? Oder hatte er sie für die begehrenswerte Südländerin gehalten, die sie ja gar nicht war? Immer wieder wurde sie auf ihre dunkelbraunen, fast schwarzen Augen, ihre ebensolchen Haare, ihre markanten Züge, ihr hier so gar nicht alltägliche Erscheinung angesprochen.  

Ihre vier Wände kamen ihr unwirklich leer und verlassen vor. All die gewohnten Geräusche umfingen sie sogleich wieder und trotzdem erschienen ihr ihre Wohnung plötzlich fremd. Das eine Abflussrohr schepperte, immer noch, obwohl der Hauseigentümer längst Besserung versprochen hatte. Auf dem Dachfirst des Nachbarhauses zwei laut gurrende Tauben. Wie hatte er sich doch über die undichten und ringhörigen Fenster geärgert. Sein ökologisch geschärftes Gewissen hatte diese notorische Energieverschwendung nicht verstehen können. „Traditionelle Bauweise eben“, mehr als einmal hatte sie ihm dies geduldig zu erklären versucht, hatte ihm Fenster alter, mehr als hundertjähriger Häuser gezeigt, der Häuser, welche dem grossen Brand damals nicht zum Opfer gefallen waren. Nebenan, das schwedische Pärchen, es schien wieder zueinander gefunden zu haben. Das übliche Keifen jedenfalls hörte sich um Greifen nahe an. Ebenfalls Studenten, die beiden, in den letzten Semestern, hatten sie ihr zu verstehen gegeben. Offenbar gehörte es inzwischen zum guten Ton seinen Abschluss gerade hier und nicht an einer der andern grossen Universitäten Skandinaviens zu machen. Selbst Deutsche, Österreicher, Schweizer, Holländer, sie folgten inzwischen diesem Trend.

Auch er war als einer dieser Zugvögel hergekommen. Und nun war alles bereits Vergangenheit. Sein Diplom kaum in der Tasche, hatte er das Weite gesucht. War das mit ihnen alles bloss ein grosser Irrtum gewesen? Diese bange Frage liess sie nicht mehr los. Begonnen jedenfalls hatte alles tatsächlich mit einem grossen, peinlichen Irrtum. Oft hatten sie später darüber lachen können. Über die Internetplattform der Hochschule hatte sie geglaubt endlich wieder eine Untermieterin gefunden zu haben. Gross war ihre Überraschung gewesen, als sich die vermeintliche Andrea als neu zugezogener, selbstsicherer, adretter Kommilitone in einem der späteren Semester entpuppte. Inzwischen wusste sie natürlich, dass man auch der Endung deutscher Vornamen das Geschlecht seiner Träger nicht zweifelsfrei zuordnen kann. Obwohl für ihre Zweier-WG bisher ausschliesslich Mitbewohnerinnen in Frage gekommen waren, schnell waren sie sich dann doch handelseinig geworden. Sie konnte sich seinem natürlichen Charme nicht entziehen, mochte ihn und war gleich angetan gewesen von seiner fröhlichen unbekümmerten Art. Seine letzten Semester gedachte er hier zu studieren, war jedoch bereits zu Beginn der Semesterferien angereist um vorgängig noch einen Sprachkurs zu belegen. Zweifellos hätte er sich mit seinen Englischkenntnissen bestens durchschlagen können. Ihr imponierte sogleich sein unbändiger Wille sich in Sitten und Gebräuche des Gastlandes rasch einzuleben und sich zu offiziellem Semesterbeginn auch leidlich in der Landessprache verständigen zu können.

Ihr erstes Beschnuppern war äusserst kurz ausgefallen. Denn für ihre Semesterferien hatte sie, voraussichtlich zum letzten Mal während ihres Studiums, auf einem der Postschiffe angeheuert. Dank ihrer Sprachkenntnisse war sie während der Touristensaison an der Rezeption und im Office dieser Schiffe willkommene Mitarbeiterin. Alle zweiundzwanzig Tage war Landurlaub angesagt und sie staunte jedes Mal mehr bei ihrer Rückkehr über die sprachlichen Fortschritte ihres neuen Mitbewohners. Bald konnten sie sich problemlos in ihrer eigenen Sprache verständigen. Sie begann sich auf ihre jeweiligen Wiedersehen regelrecht zu freuen, konnte es kaum erwarten wieder mit ihm ihre Wohnung zu teilen. Bald wurde es auch für Freunde und Bekannte offensichtlich, dass aus der WG mehr als eine Vernunftgemeinschaft geworden war.

Und dann, mit dem Abschluss seiner Studien, die bittere Einsicht. Früh hatte er sich umgesehen. Doch seine eifrigen Bemühungen hatten sich zerschlagen. Eine Stelle, welche seiner inzwischen abgeschlossenen Ausbildung auch nur in Ansätzen gerecht geworden wäre, war auf die Schnelle hier in der Region nicht zu finden gewesen. Mitten in seine verzweifelte Suche war unverhofft ein Angebot jenes Unternehmens eingetroffen, bei welchem er früher in seiner Heimat mehrfach als Student teilzeitig gearbeitet hatte. Er konnte sich dieser einmaligen Gelegenheit nicht entziehen; daran gab es auch für sie keinen Zweifel. Gleichzeitig war ihre temporäre Stelle am Universitäts- Institut in eine unbefristete umgewandelt worden. Sie hatte sich künftig um internationale Koordination mit ähnlich orientierten Forschungsinstitutionen und mit der Realisierung der regelmässig hier stattfindenden Kongresse zu befassen. Nein, weder sie noch er konnten sie ihre jeweiligen Angebote ausschlagen. So blieb ihnen nur die Trennung. Wenn auch auf Zeit, damit hatten sie sich in den vergangenen Wochen ihres Abschieds auf Raten getröstet. Bald würde er sie besuchen kommen und Weihnachten wollte sie bei ihm und seinen Eltern verbringen. Heute hatte er der Kirkegate den Rücken gekehrt, vorerst endgültig. Doch die Hoffnung stirbt zuletzt. Dennoch, sie liess ihren Tränen, ihrer Verzweiflung freien Lauf. Bald würde ihre jüngere Schwester seinen Platz in der WG einnehmen.

Unten fiel eine Tür ins Schloss.

* * *

Die Räumung zog sich hin. Sein Bruder war ebenso ausgelastet wie er, hatte sich zudem mit seiner Frau noch in die Betreuung ihres Neugeborenen zu teilen. Nach dem unerwarteten Tod des Vaters hatte ihre Mutter dem längst fälligen Umzug ins Altersheim zugestimmt. Eine eigene Nutzung des grossen Hauses kam weder für die junge Familie noch für ihn selbst in Frage. So blieb ihnen nur die Räumung; sie planten das Haus rasch möglichst zu vermieten.

Etwas fiel zu Boden. Erst konnte er sich keinen Reim darauf machen weder, was das Päckchen zuoberst auf seinem ehemaligen Büchergestell zu bedeuten hatte, noch wie es dahin gekommen war! „Kirkegate steht Dir immer offen“, sein ehemaliger Schlüssel! Wie überhaupt hatte er das vergessen können? Ihr Abschiedsgeschenk! „Erst zuhause öffnen“, darauf hatte sie bestanden. Und erst einmal zuhause angekommen hatte er es gar nicht geöffnet! Unmittelbar nach seiner Heimkehr war das mit seinem Vater geschehen. Notfallarzt, Ambulanz, die Angst um den von einem Schlaganfall Getroffenen, die Verzweiflung seiner hilflos überforderten Mutter, die Zeit in der REHA. Trotz all dieser Widrigkeiten, um wenige Wochen nur hatte man ihm vor seiner Abreise zum Trainingsaufenthalt in die USA Aufschub gewährt. Dass man mit ihm gleich von vorne weg solche Pläne gehabt hatte, davon war bei seiner Einstellung noch keineswegs die Rede gewesen. An Normalität jedenfalls war nach seiner Heimkehr nicht mehr zu denken gewesen. Und so musste er in einem unbedachten Augenblick ihr noch ungeöffnetes Geschenk wohl weggelegt und vergessen haben. Warum aber hatte Kjerstina ihn nie danach gefragt?

Der halbjährige Aufenthalt im Stammhaus seines Arbeitgebers und gleich anschliessend seine intensive Reisetätigkeit hatten ihre Pläne baldigen Wiedersehens vollends zunichte gemacht. Zudem, Silvia hatte sich ihm gleich nach seiner Heimkehr wieder aufgedrängt, hatte nicht verstehen wollen, dass sie nicht dort wieder hätten anknüpfen sollen, wo vor drei Jahren Schluss gewesen war.

Neun Jahre waren seit den missglückten Weihnachtsferien inzwischen vergangen. Unschwer konnte er sich auch jetzt noch, nach so langer Zeit, Kjerstinas massloser Enttäuschung und ebenso seiner hilflosen Schuldgefühle entsinnen, als er sie Silvias wegen sogar an Heiligabend seinen Eltern hatte überlassen müssen. Nicht dass er Kjerstina damals den wahren Grund für sein plötzliches Verschwinden genannt hätte. Schäbige Ausflüchte, ein unerwartetes Meeting, die Wahrheit jedoch hatte sie sich wohl unschwer zusammenreimen können! Entsprechend frostig später sein Empfang in der Kirkgate ausgefallen. Sie hatte nicht den geringsten Einwand erhoben, als er von vorneherein ein Hotelzimmer gebucht und nicht bei ihr zu übernachten gedacht hatte. Statt eines gemütlichen Beisammenseins, das gemeinsame Nachtessen mit ihren Freundinnen, Freunden und Arbeitskollegen. Sonntag und Montag dann war er auf sich allein gestellt gewesen; sie hatte unerwartet eine Geschäftsreise anzutreten gehabt. Zufall oder hatte sie einen Vorwand gesucht? Ausrede oder nicht, warum hatte er sie nicht darauf angesprochen? Ja, warum hatte er ihr Verschwinden damals unwidersprochen hingenommen? Wo war ihre Vertrautheit, ihre Aufrichtigkeit, ihre Liebe geblieben? Hatten sie sich leichtfertig aufgegeben oder hatte ihnen trotz ihrer drei Jahre schliesslich doch ein stabiles Fundament für ihre Beziehung gefehlt?

Ein weiteres Widersehen hatte es nicht mehr gegeben. Ihre Anrufe waren rasch seltener geworden. Auch ihr anfangs so lebhafter Mailverkehr war schliesslich versiegt. Sein letztes Mail an sie war einen Tage nach dessen Versand als unzustellbar gekennzeichnet von seinem Provider zurückgesandt worden.

Und damit hatte er es bewenden lassen.

* * *

Ihren Briefkasten fand sie nach ihrer Rückkehr übervoll. Sie war unmittelbar vor Weihnachten von ihrer Geschäftsreise nachhause zurückgekommen. Erst als sie die sorgfältig sortierte Korrespondenz auf ihrem Küchentisch entdeckte, erinnerte sie sich daran, dass ihre Kollegin ja bereits seit einigen Tagen selbst verreist war und sich ihres Briefkastens nicht mehr hatte annehmen können. Die Weihnachtskarte von Andrea war ihr offensichtlich entglitten, als sie Koffer, Handgepäck und Post, alles wieder einmal gleichzeitig, hatte hereintragen wollen.

Vertriebsleiter für Europa und den Nahen Osten, boomende Geschäfte durch all die neu erschlossenen Öl- und Gasfelder, der Vater gestorben, der schlechte Gesundheitszustand seiner Mutter, einige Anekdoten von seinen Patenkindern. Kein Wort über Silvia, seine Verlobte, heute wohl längst oder vielleicht schon nicht mehr seine Ehefrau. Fakten, aber kaum Persönliches, höchstens die höfliche und beinahe selbstverständliche Frage nach ihrem Befinden. Völlig unerwartet jetzt, sein Lebenszeichen! Nach all den langen Jahren. Was ihn wohl dazu bewogen hatte sich wieder zu melden. Ihm jetzt noch eine Weihnachtskarte senden? Sie würde keinesfalls mehr rechtzeitig eintreffen. Und wozu auch? Sie dachte nicht daran noch einmal dort anzuknüpfen, wo ihr damals nichts geblieben war als bittere Enttäuschung. Sie hatte ihren Beruf und immer neue Herausforderungen warteten auf sie. Zudem erst ihr überstürzter Hauskauf und jetzt noch der aufwändige Umbau. Ihre Wohnung hatte sie nun mit der nebenan liegenden vereint. Auch die übrigen Wohnungen waren inzwischen auf neuen Stand gebracht worden. Für mehr war und blieb ihr kaum Zeit. Bei einem internationalen Kongress einst, da hatte sich eine interessante Bekanntschaft ergeben. Doch diese hatte letztlich zu nichts als einem heftigen Briefwechsel geführt und dieser war verebbt, als sie zufällig und über verschlungene Umwege von seinen wahren Familienverhältnissen erfahren hatte.

Die drei Zeilen, sie hatte sich nach langem Zögern doch noch dazu entschlossen, sie waren nichts weiter als nichtssagend und kaum mehr eine als höfliche Geste. Aber immerhin!

Andreas Karte zu ihrem Geburtstag traf sie wiederum unvorbereitet, hatte sie doch kaum mehr mit einer Fortsetzung dieses sinnlosen Informationsaustausches gerechnet. Seinen Fragen nach ihrem Befinden diesmal jedoch eingehend und bestimmt. Aber sie mochte Vergangenes nicht noch einmal aufgreifen. Zu traurig, das Scheitern ihrer so hoffnungsvoll begonnen Beziehung. Die schreckliche Erkenntnis bei ihrem ersten Besuch in seiner Heimat! Ein Irrtum, so hatte alles begonnen und so hatte es geendet, in nichts als einem schwarzen Loch!     

Seinem Wunsch nach ihrer neuen Mail-Adresse kam sie erst nach nochmaliger Nachfrage seinerseits nach. Logisch, dass ihre bisherige Adresse bei der Universität schliesslich gelöscht worden war, hatte sie doch längst ganz in das neue privatwirtschaftlich geführte gleichnamige Institut gewechselt und war inzwischen zu dessen Leiterin aufgestiegen.
   
* * *

Nordwind ist aufgekommen; er treibt das erste Herbstlaub vor sich her, verspricht aber gleichzeitig einige Tage schönen jedoch kalten Wetters. Nachdenklich geht er die Kirkegate hoch. Ihr heutiges Gespräch, alte Kollegen, ihre gemeinsamen Erinnerungen. Doch die erhaltene Bestätigung seiner insgeheimen Vermutung lassen ihn nicht mehr los. Er hat kaum Augen für den Fjord, der sich inzwischen stahlblau und aufgewühlt vor ihm ausbreitet. Er blickt auf. Hat sie ihn erkannt, hat sie ihn deshalb gegrüsst? Nicht anzunehmen – er sieht der grauhaarigen Frau nach. Neun Jahre sind eben doch eine lange Zeit!  

Kaum wieder zu erkennen, das behäbige altehrwürdige Haus. Seit einigen Jahren gehört es ihr, so hat sie kürzlich geschrieben. Das Haus, bergseitig, von der Strasse etwas zurückgesetzt gelegen – für ihn unvergessliche Erinnerung an ihre kostbare gemeinsame Zeit. Fünf Briefkästen, vereint mit einer weiteren Box für Klingeln, Gegensprechanlage und Videokamera, zu einem rechteckigen, chromglänzenden Block. Nicht mehr die schiefe, schändliche Ruine von damals. Eines Tages hatte der Sturm die rostigen Türen aufgerissen. Er kann sich noch gut ihres Schreckens erinnern, hatten sie doch befürchtet, die lang ersehnte Zusage auf eine seiner unzähligen Stellenbewerbungen sei mit der übrigen Post in alle Himmelsrichtungen verteilt worden und nicht mehr auffindbar. Die Hausfassade hat sie sorgfältig restaurieren und die fantasievolle Architektur durch unterschiedliche Einfärbung des Holzwerks geschickt hervorheben lassen.

„Mir Deinem Schlüssel kommst Du nicht mehr weit: Natürlich haben wir jetzt eine zeitgemässe Schliessanlage, wie es sich gehört…“ Und ihre ehemalige, gemütliche Studentenbude nur noch eine Erinnerung? Einzig der alte Troll wacht noch treu und unbeirrt wie eh über den Zugang zum Haus. Als sei es für ihn auch noch heute ganz selbstverständlich, greift er hinten in die geschnitzte Halskrause und entnimmt den hinterlegten Schlüssel zu der derzeit gerade freien Wohnung im Erdgeschoss. „Kannst dort bleiben, solange es Dir gefällt, solange, bis neue Mieter dort einziehen…“ Ihre eigene Wohnung hat sie ihm nicht angeboten, gleichzeitig aber seinen Vorschlag ein Hotelzimmer zu buchen vehement abgelehnt. Drei aussichtslose Tage. Sie längst in einer festen Beziehung! Was hat er sich denn erträumt? Drei sinnlose Tage! Freitag, heute, nur bis Montag wird er bleiben und dann zur neu in Betrieb genommenen zentralen Ölaufbereitung aufbrechen. Eine der grössten Investitionen der letzten Jahre in die Zukunft des aufstrebenden Landes.

Er ist trotz des ausgiebigen Mittagessens, zu welchem ihn sein Freund aus der Studentenzeit grosszügig eingeladen hat, noch viel zu früh. Kjerstina leitet heute ein internationales Kolloquium, hat aber zugesagt abends mit ihm essen zu gehen.

Jetzt zweifelt er mit gutem Grund daran, ob die insgeheime Hoffnung, welche ihn zu diesem Abstecher veranlasst hat, nicht doch auf Sand gebaut ist? Als könnte man Vergangenes ungeschehen machen; was hat er noch zu erwarten, er, der seine Chance leichtfertig verspielt hat. Leichtfertig? Jedenfalls haben, wenn er zurückblickt, in den letzten Jahren für ihn bloss Beruf und Karriere gezählt. Und heute? Sein vorläufiges Karriereziel hat er immerhin erreicht!

Sein Freund aus der Studentenzeit hat das Gerücht um Kjerstinas feste Beziehung zwar weder bestätigen noch in Abrede stellen wollen: „Ja, man sieht sie oft zusammen. Er soll ihr Mitarbeiter sein und Grund gemeinsam unterwegs zu sein, dürften sie damit wohl genügend haben.“ Warum keine Aufforderung bei ihr zu überachten? Darum ihre unverbindlich gebliebenen Mails. Blendet sie ihre gemeinsame Geschichte hartnäckig aus. Kein Wort, auch nicht eine Andeutung, wie es ihr ergangen ist, wie es heute um sie steht!

Hat er seine Chance verspielt? Endgültig?

Er wählt den längeren und weniger beschwerlichen Weg den Berg hoch. Immer weiter reicht jetzt die Sicht auf den Fjord mit seinen zahllosen Schären und verliert sich letztlich im nachmittäglichen Dunst. Gegen Mittag endlich hat sich die Sonne gezeigt. Ihr Kolloquium findet seinen Abschluss oben, auf dem Hausberg und dort, so hat sie vorgeschlagen, möchte sie ihn auch treffen.

Eine Unmenge an Gästen, alle mit den üblichen Rollkoffern und Laptop-Taschen, stehen an der Bergstation zur Talfahrt bereit. Offensichtlich Teilnehmende der eben zu Ende gegangenen Tagung. Von Kjerstina keine Spur. Vergeudete, lange Jahre – die Zeit wird an ihnen beiden nicht spurlos vorbeigegangen sein. Er hält sich diskret im Hintergrund, erwartet sie dennoch voller Neugierde in der grosszügigen Halle des Bergrestaurants. Schliesslich schaut er sich nach dem Auditorium um, hofft sie dort zu finden.

Dann entdeckt er sie. Lachend tritt sie hinter einem mächtigen Blumen-Arrangement
hervor. Hat auch sie ihn erst begutachten wollen? Sie scheint sich ertappt zu fühlen, fängt sich aber gleich wieder. Ihr neckisches Ponytail ist einer strengen Pagenfrisur gewichen. Hat sich ihre verspielte Frisur nicht mehr mit ihrer hierarchischen Stellung vereinbaren lassen – oder eben bloss ein eindringlicher Wunsch ihres neuen Freundes oder Partners? Sogleich nehmen ihn ihre grossen, einnehmenden Augen gefangen.

Sie rückt einen weiteren Stuhl zurecht und stellt unbefangen die beiden Männer einander vor. Also stimmt offensichtlich das hartnäckige Gerücht! Erst tauschen die beiden ihre Eindrücke von der Tagung aus, sind offensichtlich zufrieden mit dem Erreichten. Er fühlt sich ausgeschlossen. Dann unverbindlicher Smalltalk. Er beteiligt sich halbherzig, macht aber gute Miene zum sinnlosen Geplapper. Und, er wird sein hoffnungsvolles Geschenk für sie unverrichteter Dinge wieder nachhause tragen. Ein Schlüssel zu seiner eigenen Wohnung, sorgfältig verpackt in Geschenkpapier. In ihrem Geschenkpapier, das sie selbst einmal benutzt hat um seinen Schlüssel einzuhüllen! Wozu auch diese sinnlose Geste? Was hat er sich davon erhofft?

Dass der junge, attraktive Mann bereits vor der Mittelstation der Standseilbahn einen seiner Schlüssel zückt, verwirrt ihn. Und dann ist er auch bereits ausgestiegen und winkt ihnen fröhlich zum Abschied. Das betagte Stationsgebäude, wie oft sind sie auf der Suche nach den ersten fahlen Sonnenstrahlen von hier aus den Höhenweg entlang gewandert!

Wie früher, sie trägt wieder einen dunkelblauen Mantel, der ihr so gut steht. Ihr unverkennbarer Duft, als sie ihren Kopf in seine Halskule legt. Ihr Arm hält ihn umfasst. All ihre verlorenen Jahre zu einem einzigen belanglosen Augenblick geschrumpft. Vergangenheit, welche der Gegenwart weicht und vielleicht eine Zukunft hat.


*pcf 2012.

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