Inzwischen war es bereits
April geworden, Ostern vorbei. Seine Abreise hatte sich dann doch noch verzögert.
Trotzdem, viel zu schnell war alles gekommen!
Wolken hatten sich bereits
wieder vor die schwache Frühjahrssonne gestellt; der Wind heulte unbarmherzig
um die verwinkelten Gassen der Altstadt. Kleine, harte Schneekrümel trieb er
vor sich her. Der Fjord grau in grau und der Übergang vom Wasser zum Himmel
kaum auszumachen.
Wie anders, einst bei ihrem
ersten Treffen, damals in der Mensa. Eine strahlende Sonne schien die letzten noch
unschlüssigen Triebe zum Wachsen anzutreiben. Ein Frühlingstag voller Versprechungen!
Die ersten Obstbäume hatten geblüht. Windjacken und schweres Schuhwerk waren weggeräumt.
Nichts sehnlicher erwartete man jetzt als endlich wieder die Sommergarderobe hervorzuholen.
Sie hatte darauf beharrt
mitzukommen. Und jetzt sassen sie im Flybuss. Bücher, vor allem seine Bücher, dazu
einige wenige Erinnerungen, auch die meisten Kleider hatte er bereits früher
zurückgesandt. Ein grosser dunkelroter Hartschalenkoffer, allerdings dennoch zum
Bersten gefüllt. Und dann das übliche Handgepäck, Laptop, Fotoapparat. Trotz
allem ernüchternd wenig, eingedenk ihrer drei gemeinsamen Jahre! Sie sah ihm erschöpft
nach, als er sich durch die Menge unschlüssig Wartender einen Weg zum Check-In
bahnte.
Das kleine Päckchen hatte sie
ihm in letzten Augenblick zugesteckt und ihm sogleich auch das Versprechen
abgenommen mit dem Auspacken zu warten, bis er zuhause angekommen wäre.
Flüchtig hatten sie sich
geküsst. Ebenso rasch hatte sie sich abgewandt, dann war sie bereits in der
Menge untergetaucht. Insgeheim hatte sie gehofft, er würde sich vor dem Sicherheits-
Check In nochmals nach ihr umgedrehen. Doch sie hatte es nicht über sich
gebracht nochmals inne zu halten. Ein hochgewachsener Mann, braun gebrannt,
lange blonde Haare, unverschämt blaue Augen. „Wikinger“ hätten sie sich
zugeraunt. Herausfordernd lächelte dieses imponierende Wesen ihr zu. Sie sah unwillig
weg. Hatte er ihren Abschied mit verfolgt, ihre Tränen gesehen? Oder hatte er
sie für die begehrenswerte Südländerin gehalten, die sie ja gar nicht war?
Immer wieder wurde sie auf ihre dunkelbraunen, fast schwarzen Augen, ihre ebensolchen
Haare, ihre markanten Züge, ihr hier so gar nicht alltägliche Erscheinung
angesprochen.
Ihre vier Wände kamen ihr unwirklich
leer und verlassen vor. All die gewohnten Geräusche umfingen sie sogleich
wieder und trotzdem erschienen ihr ihre Wohnung plötzlich fremd. Das eine Abflussrohr
schepperte, immer noch, obwohl der Hauseigentümer längst Besserung versprochen
hatte. Auf dem Dachfirst des Nachbarhauses zwei laut gurrende Tauben. Wie hatte
er sich doch über die undichten und ringhörigen Fenster geärgert. Sein
ökologisch geschärftes Gewissen hatte diese notorische Energieverschwendung
nicht verstehen können. „Traditionelle Bauweise eben“, mehr als einmal hatte
sie ihm dies geduldig zu erklären versucht, hatte ihm Fenster alter, mehr als
hundertjähriger Häuser gezeigt, der Häuser, welche dem grossen Brand damals nicht
zum Opfer gefallen waren. Nebenan, das schwedische Pärchen, es schien wieder
zueinander gefunden zu haben. Das übliche Keifen jedenfalls hörte sich um
Greifen nahe an. Ebenfalls Studenten, die beiden, in den letzten Semestern,
hatten sie ihr zu verstehen gegeben. Offenbar gehörte es inzwischen zum guten
Ton seinen Abschluss gerade hier und nicht an einer der andern grossen
Universitäten Skandinaviens zu machen. Selbst Deutsche, Österreicher,
Schweizer, Holländer, sie folgten inzwischen diesem Trend.
Auch er war als einer dieser
Zugvögel hergekommen. Und nun war alles bereits Vergangenheit. Sein Diplom kaum
in der Tasche, hatte er das Weite gesucht. War das mit ihnen alles bloss ein grosser
Irrtum gewesen? Diese bange Frage liess sie nicht mehr los. Begonnen jedenfalls
hatte alles tatsächlich mit einem grossen, peinlichen Irrtum. Oft hatten sie
später darüber lachen können. Über die Internetplattform der Hochschule hatte
sie geglaubt endlich wieder eine Untermieterin gefunden zu haben. Gross war
ihre Überraschung gewesen, als sich die vermeintliche Andrea als neu
zugezogener, selbstsicherer, adretter Kommilitone in einem der späteren
Semester entpuppte. Inzwischen wusste sie natürlich, dass man auch der Endung
deutscher Vornamen das Geschlecht seiner Träger nicht zweifelsfrei zuordnen kann.
Obwohl für ihre Zweier-WG bisher ausschliesslich Mitbewohnerinnen in Frage gekommen
waren, schnell waren sie sich dann doch handelseinig geworden. Sie konnte sich
seinem natürlichen Charme nicht entziehen, mochte ihn und war gleich angetan
gewesen von seiner fröhlichen unbekümmerten Art. Seine letzten Semester
gedachte er hier zu studieren, war jedoch bereits zu Beginn der Semesterferien
angereist um vorgängig noch einen Sprachkurs zu belegen. Zweifellos hätte er
sich mit seinen Englischkenntnissen bestens durchschlagen können. Ihr
imponierte sogleich sein unbändiger Wille sich in Sitten und Gebräuche des
Gastlandes rasch einzuleben und sich zu offiziellem Semesterbeginn auch leidlich
in der Landessprache verständigen zu können.
Ihr erstes Beschnuppern war
äusserst kurz ausgefallen. Denn für ihre Semesterferien hatte sie,
voraussichtlich zum letzten Mal während ihres Studiums, auf einem der
Postschiffe angeheuert. Dank ihrer Sprachkenntnisse war sie während der Touristensaison
an der Rezeption und im Office dieser Schiffe willkommene Mitarbeiterin. Alle
zweiundzwanzig Tage war Landurlaub angesagt und sie staunte jedes Mal mehr bei
ihrer Rückkehr über die sprachlichen Fortschritte ihres neuen Mitbewohners.
Bald konnten sie sich problemlos in ihrer eigenen Sprache verständigen. Sie
begann sich auf ihre jeweiligen Wiedersehen regelrecht zu freuen, konnte es
kaum erwarten wieder mit ihm ihre Wohnung zu teilen. Bald wurde es auch für
Freunde und Bekannte offensichtlich, dass aus der WG mehr als eine
Vernunftgemeinschaft geworden war.
Und dann, mit dem Abschluss
seiner Studien, die bittere Einsicht. Früh hatte er sich umgesehen. Doch seine eifrigen
Bemühungen hatten sich zerschlagen. Eine Stelle, welche seiner inzwischen
abgeschlossenen Ausbildung auch nur in Ansätzen gerecht geworden wäre, war auf
die Schnelle hier in der Region nicht zu finden gewesen. Mitten in seine verzweifelte
Suche war unverhofft ein Angebot jenes Unternehmens eingetroffen, bei welchem
er früher in seiner Heimat mehrfach als Student teilzeitig gearbeitet hatte. Er
konnte sich dieser einmaligen Gelegenheit nicht entziehen; daran gab es auch
für sie keinen Zweifel. Gleichzeitig war ihre temporäre Stelle am Universitäts-
Institut in eine unbefristete umgewandelt worden. Sie hatte sich künftig um
internationale Koordination mit ähnlich orientierten Forschungsinstitutionen
und mit der Realisierung der regelmässig hier stattfindenden Kongresse zu
befassen. Nein, weder sie noch er konnten sie ihre jeweiligen Angebote ausschlagen.
So blieb ihnen nur die Trennung. Wenn auch auf Zeit, damit hatten sie sich in
den vergangenen Wochen ihres Abschieds auf Raten getröstet. Bald würde er sie
besuchen kommen und Weihnachten wollte sie bei ihm und seinen Eltern
verbringen. Heute hatte er der Kirkegate den Rücken gekehrt, vorerst endgültig.
Doch die Hoffnung stirbt zuletzt. Dennoch, sie liess ihren Tränen, ihrer
Verzweiflung freien Lauf. Bald würde ihre jüngere Schwester seinen Platz in der
WG einnehmen.
Unten fiel eine Tür ins
Schloss.
* * *
Die Räumung zog sich hin. Sein
Bruder war ebenso ausgelastet wie er, hatte sich zudem mit seiner Frau noch in
die Betreuung ihres Neugeborenen zu teilen. Nach dem unerwarteten Tod des
Vaters hatte ihre Mutter dem längst fälligen Umzug ins Altersheim zugestimmt.
Eine eigene Nutzung des grossen Hauses kam weder für die junge Familie noch für
ihn selbst in Frage. So blieb ihnen nur die Räumung; sie planten das Haus rasch
möglichst zu vermieten.
Etwas fiel zu Boden. Erst konnte
er sich keinen Reim darauf machen weder, was das Päckchen zuoberst auf seinem ehemaligen
Büchergestell zu bedeuten hatte, noch wie es dahin gekommen war! „Kirkegate
steht Dir immer offen“, sein ehemaliger Schlüssel! Wie überhaupt hatte er das vergessen
können? Ihr Abschiedsgeschenk! „Erst zuhause öffnen“, darauf hatte sie
bestanden. Und erst einmal zuhause angekommen hatte er es gar nicht geöffnet! Unmittelbar
nach seiner Heimkehr war das mit seinem Vater geschehen. Notfallarzt, Ambulanz,
die Angst um den von einem Schlaganfall Getroffenen, die Verzweiflung seiner
hilflos überforderten Mutter, die Zeit in der REHA. Trotz all dieser
Widrigkeiten, um wenige Wochen nur hatte man ihm vor seiner Abreise zum
Trainingsaufenthalt in die USA Aufschub gewährt. Dass man mit ihm gleich von
vorne weg solche Pläne gehabt hatte, davon war bei seiner Einstellung noch keineswegs
die Rede gewesen. An Normalität jedenfalls war nach seiner Heimkehr nicht mehr
zu denken gewesen. Und so musste er in einem unbedachten Augenblick ihr noch ungeöffnetes
Geschenk wohl weggelegt und vergessen haben. Warum aber hatte Kjerstina ihn nie
danach gefragt?
Der halbjährige Aufenthalt im
Stammhaus seines Arbeitgebers und gleich anschliessend seine intensive
Reisetätigkeit hatten ihre Pläne baldigen Wiedersehens vollends zunichte
gemacht. Zudem, Silvia hatte sich ihm gleich nach seiner Heimkehr wieder aufgedrängt,
hatte nicht verstehen wollen, dass sie nicht dort wieder hätten anknüpfen sollen,
wo vor drei Jahren Schluss gewesen war.
Neun Jahre waren seit den
missglückten Weihnachtsferien inzwischen vergangen. Unschwer konnte er sich
auch jetzt noch, nach so langer Zeit, Kjerstinas massloser Enttäuschung und ebenso
seiner hilflosen Schuldgefühle entsinnen, als er sie Silvias wegen sogar an
Heiligabend seinen Eltern hatte überlassen müssen. Nicht dass er Kjerstina damals
den wahren Grund für sein plötzliches Verschwinden genannt hätte. Schäbige
Ausflüchte, ein unerwartetes Meeting, die Wahrheit jedoch hatte sie sich wohl unschwer
zusammenreimen können! Entsprechend frostig später sein Empfang in der Kirkgate
ausgefallen. Sie hatte nicht den geringsten Einwand erhoben, als er von
vorneherein ein Hotelzimmer gebucht und nicht bei ihr zu übernachten gedacht
hatte. Statt eines gemütlichen Beisammenseins, das gemeinsame Nachtessen mit
ihren Freundinnen, Freunden und Arbeitskollegen. Sonntag und Montag dann war er
auf sich allein gestellt gewesen; sie hatte unerwartet eine Geschäftsreise
anzutreten gehabt. Zufall oder hatte sie einen Vorwand gesucht? Ausrede oder
nicht, warum hatte er sie nicht darauf angesprochen? Ja, warum hatte er ihr
Verschwinden damals unwidersprochen hingenommen? Wo war ihre Vertrautheit, ihre
Aufrichtigkeit, ihre Liebe geblieben? Hatten sie sich leichtfertig aufgegeben
oder hatte ihnen trotz ihrer drei Jahre schliesslich doch ein stabiles
Fundament für ihre Beziehung gefehlt?
Ein weiteres Widersehen hatte
es nicht mehr gegeben. Ihre Anrufe waren rasch seltener geworden. Auch ihr
anfangs so lebhafter Mailverkehr war schliesslich versiegt. Sein letztes Mail an
sie war einen Tage nach dessen Versand als unzustellbar gekennzeichnet von
seinem Provider zurückgesandt worden.
Und damit hatte er es
bewenden lassen.
*
* *
Ihren Briefkasten fand sie
nach ihrer Rückkehr übervoll. Sie war unmittelbar vor Weihnachten von ihrer
Geschäftsreise nachhause zurückgekommen. Erst als sie die sorgfältig sortierte
Korrespondenz auf ihrem Küchentisch entdeckte, erinnerte sie sich daran, dass
ihre Kollegin ja bereits seit einigen Tagen selbst verreist war und sich ihres
Briefkastens nicht mehr hatte annehmen können. Die Weihnachtskarte von Andrea
war ihr offensichtlich entglitten, als sie Koffer, Handgepäck und Post, alles
wieder einmal gleichzeitig, hatte hereintragen wollen.
Vertriebsleiter für Europa
und den Nahen Osten, boomende Geschäfte durch all die neu erschlossenen Öl- und
Gasfelder, der Vater gestorben, der schlechte Gesundheitszustand seiner Mutter,
einige Anekdoten von seinen Patenkindern. Kein Wort über Silvia, seine Verlobte,
heute wohl längst oder vielleicht schon nicht mehr seine Ehefrau. Fakten, aber
kaum Persönliches, höchstens die höfliche und beinahe selbstverständliche Frage
nach ihrem Befinden. Völlig unerwartet jetzt, sein Lebenszeichen! Nach all den
langen Jahren. Was ihn wohl dazu bewogen hatte sich wieder zu melden. Ihm jetzt
noch eine Weihnachtskarte senden? Sie würde keinesfalls mehr rechtzeitig eintreffen.
Und wozu auch? Sie dachte nicht daran noch einmal dort anzuknüpfen, wo ihr damals
nichts geblieben war als bittere Enttäuschung. Sie hatte ihren Beruf und immer
neue Herausforderungen warteten auf sie. Zudem erst ihr überstürzter Hauskauf
und jetzt noch der aufwändige Umbau. Ihre Wohnung hatte sie nun mit der nebenan
liegenden vereint. Auch die übrigen Wohnungen waren inzwischen auf neuen Stand
gebracht worden. Für mehr war und blieb ihr kaum Zeit. Bei einem
internationalen Kongress einst, da hatte sich eine interessante Bekanntschaft
ergeben. Doch diese hatte letztlich zu nichts als einem heftigen Briefwechsel
geführt und dieser war verebbt, als sie zufällig und über verschlungene Umwege
von seinen wahren Familienverhältnissen erfahren hatte.
Die drei Zeilen, sie hatte
sich nach langem Zögern doch noch dazu entschlossen, sie waren nichts weiter
als nichtssagend und kaum mehr eine als höfliche Geste. Aber immerhin!
Andreas Karte zu ihrem
Geburtstag traf sie wiederum unvorbereitet, hatte sie doch kaum mehr mit einer
Fortsetzung dieses sinnlosen Informationsaustausches gerechnet. Seinen Fragen nach
ihrem Befinden diesmal jedoch eingehend und bestimmt. Aber sie mochte
Vergangenes nicht noch einmal aufgreifen. Zu traurig, das Scheitern ihrer so
hoffnungsvoll begonnen Beziehung. Die schreckliche Erkenntnis bei ihrem ersten
Besuch in seiner Heimat! Ein Irrtum, so hatte alles begonnen und so hatte es
geendet, in nichts als einem schwarzen Loch!
Seinem Wunsch nach ihrer
neuen Mail-Adresse kam sie erst nach nochmaliger Nachfrage seinerseits nach.
Logisch, dass ihre bisherige Adresse bei der Universität schliesslich gelöscht worden
war, hatte sie doch längst ganz in das neue privatwirtschaftlich geführte gleichnamige
Institut gewechselt und war inzwischen zu dessen Leiterin aufgestiegen.
* *
*
Nordwind ist aufgekommen; er
treibt das erste Herbstlaub vor sich her, verspricht aber gleichzeitig einige
Tage schönen jedoch kalten Wetters. Nachdenklich geht er die Kirkegate hoch.
Ihr heutiges Gespräch, alte Kollegen, ihre gemeinsamen Erinnerungen. Doch die erhaltene
Bestätigung seiner insgeheimen Vermutung lassen ihn nicht mehr los. Er hat kaum
Augen für den Fjord, der sich inzwischen stahlblau und aufgewühlt vor ihm
ausbreitet. Er blickt auf. Hat sie ihn erkannt, hat sie ihn deshalb gegrüsst?
Nicht anzunehmen – er sieht der grauhaarigen Frau nach. Neun Jahre sind eben
doch eine lange Zeit!
Kaum wieder zu erkennen, das
behäbige altehrwürdige Haus. Seit einigen Jahren gehört es ihr, so hat sie
kürzlich geschrieben. Das Haus, bergseitig, von der Strasse etwas zurückgesetzt
gelegen – für ihn unvergessliche Erinnerung an ihre kostbare gemeinsame Zeit.
Fünf Briefkästen, vereint mit einer weiteren Box für Klingeln,
Gegensprechanlage und Videokamera, zu einem rechteckigen, chromglänzenden
Block. Nicht mehr die schiefe, schändliche Ruine von damals. Eines Tages hatte
der Sturm die rostigen Türen aufgerissen. Er kann sich noch gut ihres
Schreckens erinnern, hatten sie doch befürchtet, die lang ersehnte Zusage auf
eine seiner unzähligen Stellenbewerbungen sei mit der übrigen Post in alle
Himmelsrichtungen verteilt worden und nicht mehr auffindbar. Die Hausfassade
hat sie sorgfältig restaurieren und die fantasievolle Architektur durch
unterschiedliche Einfärbung des Holzwerks geschickt hervorheben lassen.
„Mir Deinem Schlüssel kommst Du
nicht mehr weit: Natürlich haben wir jetzt eine zeitgemässe Schliessanlage, wie
es sich gehört…“ Und ihre ehemalige, gemütliche Studentenbude nur noch eine
Erinnerung? Einzig der alte Troll wacht noch treu und unbeirrt wie eh über den
Zugang zum Haus. Als sei es für ihn auch noch heute ganz selbstverständlich,
greift er hinten in die geschnitzte Halskrause und entnimmt den hinterlegten Schlüssel
zu der derzeit gerade freien Wohnung im Erdgeschoss. „Kannst dort bleiben,
solange es Dir gefällt, solange, bis neue Mieter dort einziehen…“ Ihre eigene
Wohnung hat sie ihm nicht angeboten, gleichzeitig aber seinen Vorschlag ein
Hotelzimmer zu buchen vehement abgelehnt. Drei aussichtslose Tage. Sie längst
in einer festen Beziehung! Was hat er sich denn erträumt? Drei sinnlose Tage! Freitag,
heute, nur bis Montag wird er bleiben und dann zur neu in Betrieb genommenen
zentralen Ölaufbereitung aufbrechen. Eine der grössten Investitionen der
letzten Jahre in die Zukunft des aufstrebenden Landes.
Er ist trotz des ausgiebigen
Mittagessens, zu welchem ihn sein Freund aus der Studentenzeit grosszügig
eingeladen hat, noch viel zu früh. Kjerstina leitet heute ein internationales
Kolloquium, hat aber zugesagt abends mit ihm essen zu gehen.
Jetzt zweifelt er mit gutem
Grund daran, ob die insgeheime Hoffnung, welche ihn zu diesem Abstecher
veranlasst hat, nicht doch auf Sand gebaut ist? Als könnte man Vergangenes
ungeschehen machen; was hat er noch zu erwarten, er, der seine Chance
leichtfertig verspielt hat. Leichtfertig? Jedenfalls haben, wenn er
zurückblickt, in den letzten Jahren für ihn bloss Beruf und Karriere gezählt.
Und heute? Sein vorläufiges Karriereziel hat er immerhin erreicht!
Sein Freund aus der
Studentenzeit hat das Gerücht um Kjerstinas feste Beziehung zwar weder
bestätigen noch in Abrede stellen wollen: „Ja, man sieht sie oft zusammen. Er soll
ihr Mitarbeiter sein und Grund gemeinsam unterwegs zu sein, dürften sie damit wohl
genügend haben.“ Warum keine Aufforderung bei ihr zu überachten? Darum ihre
unverbindlich gebliebenen Mails. Blendet sie ihre gemeinsame Geschichte hartnäckig
aus. Kein Wort, auch nicht eine Andeutung, wie es ihr ergangen ist, wie es
heute um sie steht!
Hat er seine Chance
verspielt? Endgültig?
Er wählt den längeren und
weniger beschwerlichen Weg den Berg hoch. Immer weiter reicht jetzt die Sicht
auf den Fjord mit seinen zahllosen Schären und verliert sich letztlich im
nachmittäglichen Dunst. Gegen Mittag endlich hat sich die Sonne gezeigt. Ihr Kolloquium
findet seinen Abschluss oben, auf dem Hausberg und dort, so hat sie
vorgeschlagen, möchte sie ihn auch treffen.
Eine Unmenge an Gästen, alle
mit den üblichen Rollkoffern und Laptop-Taschen, stehen an der Bergstation zur Talfahrt
bereit. Offensichtlich Teilnehmende der eben zu Ende gegangenen Tagung. Von
Kjerstina keine Spur. Vergeudete, lange Jahre – die Zeit wird an ihnen beiden
nicht spurlos vorbeigegangen sein. Er hält sich diskret im Hintergrund,
erwartet sie dennoch voller Neugierde in der grosszügigen Halle des
Bergrestaurants. Schliesslich schaut er sich nach dem Auditorium um, hofft sie
dort zu finden.
Dann entdeckt er sie. Lachend
tritt sie hinter einem mächtigen Blumen-Arrangement
hervor. Hat auch sie ihn erst
begutachten wollen? Sie scheint sich ertappt zu fühlen, fängt sich aber gleich
wieder. Ihr neckisches Ponytail ist einer strengen Pagenfrisur gewichen. Hat
sich ihre verspielte Frisur nicht mehr mit ihrer hierarchischen Stellung
vereinbaren lassen – oder eben bloss ein eindringlicher Wunsch ihres neuen
Freundes oder Partners? Sogleich nehmen ihn ihre grossen, einnehmenden Augen
gefangen.
Sie rückt einen weiteren Stuhl
zurecht und stellt unbefangen die beiden Männer einander vor. Also stimmt
offensichtlich das hartnäckige Gerücht! Erst tauschen die beiden ihre Eindrücke
von der Tagung aus, sind offensichtlich zufrieden mit dem Erreichten. Er fühlt
sich ausgeschlossen. Dann unverbindlicher Smalltalk. Er beteiligt sich
halbherzig, macht aber gute Miene zum sinnlosen Geplapper. Und, er wird sein hoffnungsvolles
Geschenk für sie unverrichteter Dinge wieder nachhause tragen. Ein Schlüssel zu
seiner eigenen Wohnung, sorgfältig verpackt in Geschenkpapier. In ihrem
Geschenkpapier, das sie selbst einmal benutzt hat um seinen Schlüssel einzuhüllen!
Wozu auch diese sinnlose Geste? Was hat er sich davon erhofft?
Dass der junge, attraktive
Mann bereits vor der Mittelstation der Standseilbahn einen seiner Schlüssel
zückt, verwirrt ihn. Und dann ist er auch bereits ausgestiegen und winkt ihnen
fröhlich zum Abschied. Das betagte Stationsgebäude, wie oft sind sie auf der
Suche nach den ersten fahlen Sonnenstrahlen von hier aus den Höhenweg entlang
gewandert!
Wie früher, sie trägt wieder
einen dunkelblauen Mantel, der ihr so gut steht. Ihr unverkennbarer Duft, als
sie ihren Kopf in seine Halskule legt. Ihr Arm hält ihn umfasst. All ihre
verlorenen Jahre zu einem einzigen belanglosen Augenblick geschrumpft. Vergangenheit,
welche der Gegenwart weicht und vielleicht eine Zukunft hat.
*pcf 2012.
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