Tauben
flatterten vor ihm auf, liessen sich jedoch sogleich wieder nieder, suchten
zwischen den Pflastersteinen zielsicher weiter nach Fressbarem. Das Gehen
bereitete ihm seit einigen Tagen Mühe. Vom Frisör zum Dom waren es nur wenige
Schritte. Jeden Freitag liess er sich seinen inzwischen eher schütter
nachwachsenden Bart rasieren; alle 2 Wochen war zusätzlich Haarschneiden
angesagt. Seine bescheidene Eitelkeit; nicht, dass er sich nicht täglich selbst
sorgfältig rasieren würde. Doch einmal die Woche vertraute er sich dem Fachmann
an. Seit auch er im Ruhestand angelangt war, und das waren nun doch schon weit
über zehn Jahre, vermittelten ihm dieses und ähnliche Rituale und die übrige tägliche
Routine das unentbehrliche Stückchen Lebensinhalt.
Stille
und willkommene Kühle umfing ihn. Noch lag entrückender Duft nach Weihrauch vom
der Frühmesse in der romanischen Basilika. Nur spärlich aber dennoch gerade
ausreichend drang das Tageslicht durch die schmalen Fenster in den
Seitenschiffen. Beim Altar flackerte unbeirrt das ewige Licht. Linke Seite, dritthinterste
Reihe und unmittelbar neben dem mächtigen sandsteinernen Pfeiler, immer
freitags um elf, auch dies eine seiner Routinen. Er war weder katholischen
Glaubens noch gläubig im wirklichen Sinn. Doch seit dem viel zu frühen Tod
seiner innig geliebten Marianne fand er hier Ruhe und Einkehr.
Dass
er sich bis Mitte des Jahres nach einem andern Barbier würde umsehen müssen,
bedrückte ihn. Ganz unerwartet hatte ihn heute Morgen diese Nachricht
getroffen. Er hatte den immer zu einem Schwätzchen bereiten, gebildeten und inzwischen
ebenfalls ergrauten Herrn Meyer über all die Jahre schätzen gelernt; ein
Wechsel, und dies gerade, jetzt war ihm zutiefst zuwider.
Schuldbewusst
nahm er seine Schuhe von der Kniebank, als er vom Eingang her Schritte kommen
hörte. Nein, zum Beten würde er eine Kirche nie betreten, schon gar nicht eine
katholische. Das Beten war ihm längst abhandengekommen und war zudem etwas für kleine Kinder! Und dennoch
hielt er hier und nur hier jeweils andächtig Zwiesprache mit Gott, dessen
Existenz er immer verneint hatte und die er ihm auch heute noch aberkannte. Widerwillig
nur hatte er seine Marianne, wohlerzogene Tochter aus strenggläubigem
Pfarrhaus, gelegentlich zum sonntäglichen Gottesdienst begleitet. Ja eisern hatte
auch sie an ihren Ritualen festgehalten, und dies schon in jungen Jahren und nicht
erst als greise Frau.
Er
drehte sich nicht nach den verhaltenen Schritten um. Hatte es nie getan, war
überzeugt, dass sie ihn beim diesem wohltuenden Zwielicht über all die Jahre auch
nie wahrgenommen hatte. Wie hatte sie sich doch verändert und doch hatte er sie
gleich wiedererkannt, auch nach den nun bald fünfzig Jahren. An einem Freitag -
wie heute -hatten sie sich getrennt. Eine kurze Auszeit hatten sie sich bloss
nehmen wollen. Sie seiner überdrüssig geworden? Aber nein doch, seine Liebe war
nicht eine einseitige gewesen, davon war er auch heute noch überzeugt. Sie
hatten sich wahrhaftig geliebt. Der Streit dann, aus heiterem Himmel - welch
lächerliches Gezänke hatte sie damals vom Zaum gerissen. Und dennoch, Etliches
in ihrer Beziehung war schon länger nicht mehr zum Besten gestellt gewesen.
Schliesslich hatte sie ihre Freiheit wiedergewollt, wenn auch nur für absehbare
Zeit, so hatte sie ihm unmissverständlich zu verstehen gegeben. Allerdings
hatten sie nicht mehr zueinander zurückgefunden und sich schliesslich gänzlich
aus den Augen verloren.
Und
dann, welch ein Zufall? Ja, gewiss, auch an einem Freitag war es gewesen. Da
hatte sie sich drei Bankreihen vor ihm nieder gelassen. Von da weg schien auch
sie zu ähnlicher Routine gefunden zu haben. Oder hatte er sie bis dahin einfach
nicht bemerkt? Kam sie bloss freitags oder auch an andern Wochentagen her? Meist
verliess sie einiges vor ihm die Kirche wieder. Wenn Sie ihm dann entgegenkam. Diesen
Augenblick hätte er sich nie entgehen lassen. Trotz der Dunkelheit! Ihre
rabenschwarzen Haare, einst, und heute waren sie erst von wenigen silbernen
Strähnen durchwirkt. Ihre markanten Gesichtszüge noch immer unverkennbar. Ihre
grossen dunklen Augen schienen mit dem Alter noch an Ausdruck gewonnen zu
haben. Sie ging gebückt, benutzte seit
einigen Wochen gar einen Gehstock. Besorgt hatte er dies bemerkt. Ihr Blick
meist starr zum Ausgang hin gerichtet. Ob sie ihn wohl noch erkannt hätte; auch
an ihm hatten die Jahre das Ihrige getan. Er erschrak jeweils heftig, wenn er
sich zufällig auf einem der Fotos seiner Tochter entdeckte.
Freitag
um Freitag, Woche für Woche hatte er sich vorgenommen sich ihr erkennen zu
geben. Und... Er hatte es nie getan. Bisher! Hatte nicht gewagt sie
anzusprechen, wollte nicht noch einmal an alte Trauer anknüpfen. Was zu spät
war, und es war schon Jahrzehnte zu spät, dabei musste man es bewenden lassen!
Seit
drei Wochen nun schon war sie nicht mehr erschienen. Er war besorgt. War sie krank
geworden? War sie bloss im Urlaub, vielleicht bei einem ihrer Kinder? Waren ihr
Söhne, Töchter überhaupt je vergönnt gewesen? Ihr wenigstens? Was wusste er
schon über sie? Wohnte sie gleich hier um die Ecke oder kam sie mit der S-Bahn
aus einem der zahlreichen Vororte hergefahren?
Sie
erschien auch heute nicht. Wie sehr hatte er sich doch vorgenommen ihr heute wirklich
zu folgen, sie vor der Kirche anzusprechen. Was hatte sie aus ihrem Leben
gemacht, wie ging es ihr, was hatte sie regelmässig hierher geführt? Auch sie
war nicht Katholikin. Oder vielleicht inzwischen doch? Ja, was wusste er schon
über Sie?
Mühsam
hatte er sich aus der Kirchenbank erhoben. Der Küster war wie immer um diese
Zeit mit dem Einordnen der Gesangsbücher für die kommenden Gottesdienste des
Wochenendes und mit dem Anordnen der vielen Mitteilungen auf dem Schwarzen
Brett beschäftigt. Sie beide kannten sich nicht mit Namen, und doch grüssten sie
sich jeweils freundlich. Wie alte Bekannte. Oft ergab ein Wort das andere.
Ob
er, der Küster die ältere Frau kenne, die auch regelmassig freitags hier zum
Gebet erscheine und die er jetzt schon länger nicht mehr gesehen habe?
"Meinen's
denn die Frau Falke, die feine Dame, die mit dem Stock, die auch immer zum
Beten herkommt. Was sag ich auch? Herkommen
ist! Ach herrje. Aber die müssten's doch eigentlich gekannt haben. Sie hat doch
auch nach Ihnen gefragt, hat doch auch
Ihren Namen gekannt. Hab erst gar nicht gewusst, wen sie gemeint hat. Ja die
Frau Falke, sie hat wissen wollen, wo sie denn so lange geblieben sind. Damals
über die Weihnachtstage, als sie einen ganzen Monat lang nicht hergekommen sind.
Ich hab's selbst ja gar nicht bemerkt, dass Sie so lang wegblieben sind.“
Der
Küster, seine Aufregung kann er kaum verbergen, hat mit seiner Arbeit
innegehalten.
„Erst
als sie mich gefragt hat, ja, da ist‘s mir dann auch aufgefallen. Aber haben's
denn nicht gewusst, dass gute Frau Falke vorige Wochen gestorben ist? Hab doch erst
noch ihre Todesanzeige gelesen. Da muss sie gewesen sein. Trauerfeier in der reformierten
Theodorskirche? So was! Um Gottes Willen, das versteh nun aber einer. Eine
Reformierte, so was! Hier bei uns? Da hab ich ja die Welt nimmer verstanden.
Kommt jede Woche zum Beten her. Schon komisch, nur zum Beten! Und ich hab sie nie
im Gottesdienst gesehen. Beim Beichten auch nicht. Ja, die gute Frau Falke. Tut
mir leid, dass Sie das nicht gewusst haben, das mit ihrer Krankheit. Hab doch
wirklich gemeint, Sie hätten sie näher gekannt."
Er war ihm noch nachgeeilt,
hielt ihm jetzt eilfertig die schwere Kirchentür auf. "B‘hüets Gott denn!
Und nichts für ungut!"
*pcf 2012.
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