Dienstag, 13. November 2012

Der Küster



Tauben flatterten vor ihm auf, liessen sich jedoch sogleich wieder nieder, suchten zwischen den Pflastersteinen zielsicher weiter nach Fressbarem. Das Gehen bereitete ihm seit einigen Tagen Mühe. Vom Frisör zum Dom waren es nur wenige Schritte. Jeden Freitag liess er sich seinen inzwischen eher schütter nachwachsenden Bart rasieren; alle 2 Wochen war zusätzlich Haarschneiden angesagt. Seine bescheidene Eitelkeit; nicht, dass er sich nicht täglich selbst sorgfältig rasieren würde. Doch einmal die Woche vertraute er sich dem Fachmann an. Seit auch er im Ruhestand angelangt war, und das waren nun doch schon weit über zehn Jahre, vermittelten ihm dieses und ähnliche Rituale und die übrige tägliche Routine das unentbehrliche Stückchen Lebensinhalt. 

Stille und willkommene Kühle umfing ihn. Noch lag entrückender Duft nach Weihrauch vom der Frühmesse in der romanischen Basilika. Nur spärlich aber dennoch gerade ausreichend drang das Tageslicht durch die schmalen Fenster in den Seitenschiffen. Beim Altar flackerte unbeirrt das ewige Licht. Linke Seite, dritthinterste Reihe und unmittelbar neben dem mächtigen sandsteinernen Pfeiler, immer freitags um elf, auch dies eine seiner Routinen. Er war weder katholischen Glaubens noch gläubig im wirklichen Sinn. Doch seit dem viel zu frühen Tod seiner innig geliebten Marianne fand er hier Ruhe und Einkehr.

Dass er sich bis Mitte des Jahres nach einem andern Barbier würde umsehen müssen, bedrückte ihn. Ganz unerwartet hatte ihn heute Morgen diese Nachricht getroffen. Er hatte den immer zu einem Schwätzchen bereiten, gebildeten und inzwischen ebenfalls ergrauten Herrn Meyer über all die Jahre schätzen gelernt; ein Wechsel, und dies gerade, jetzt war ihm zutiefst zuwider.

Schuldbewusst nahm er seine Schuhe von der Kniebank, als er vom Eingang her Schritte kommen hörte. Nein, zum Beten würde er eine Kirche nie betreten, schon gar nicht eine katholische. Das Beten war ihm längst abhandengekommen und  war zudem etwas für kleine Kinder! Und dennoch hielt er hier und nur hier jeweils andächtig Zwiesprache mit Gott, dessen Existenz er immer verneint hatte und die er ihm auch heute noch aberkannte. Widerwillig nur hatte er seine Marianne, wohlerzogene Tochter aus strenggläubigem Pfarrhaus, gelegentlich zum sonntäglichen Gottesdienst begleitet. Ja eisern hatte auch sie an ihren Ritualen festgehalten, und dies schon in jungen Jahren und nicht erst als greise Frau.

Er drehte sich nicht nach den verhaltenen Schritten um. Hatte es nie getan, war überzeugt, dass sie ihn beim diesem wohltuenden Zwielicht über all die Jahre auch nie wahrgenommen hatte. Wie hatte sie sich doch verändert und doch hatte er sie gleich wiedererkannt, auch nach den nun bald fünfzig Jahren. An einem Freitag - wie heute -hatten sie sich getrennt. Eine kurze Auszeit hatten sie sich bloss nehmen wollen. Sie seiner überdrüssig geworden? Aber nein doch, seine Liebe war nicht eine einseitige gewesen, davon war er auch heute noch überzeugt. Sie hatten sich wahrhaftig geliebt. Der Streit dann, aus heiterem Himmel - welch lächerliches Gezänke hatte sie damals vom Zaum gerissen. Und dennoch, Etliches in ihrer Beziehung war schon länger nicht mehr zum Besten gestellt gewesen. Schliesslich hatte sie ihre Freiheit wiedergewollt, wenn auch nur für absehbare Zeit, so hatte sie ihm unmissverständlich zu verstehen gegeben. Allerdings hatten sie nicht mehr zueinander zurückgefunden und sich schliesslich gänzlich aus den Augen verloren.

Und dann, welch ein Zufall? Ja, gewiss, auch an einem Freitag war es gewesen. Da hatte sie sich drei Bankreihen vor ihm nieder gelassen. Von da weg schien auch sie zu ähnlicher Routine gefunden zu haben. Oder hatte er sie bis dahin einfach nicht bemerkt? Kam sie bloss freitags oder auch an andern Wochentagen her? Meist verliess sie einiges vor ihm die Kirche wieder. Wenn Sie ihm dann entgegenkam. Diesen Augenblick hätte er sich nie entgehen lassen. Trotz der Dunkelheit! Ihre rabenschwarzen Haare, einst, und heute waren sie erst von wenigen silbernen Strähnen durchwirkt. Ihre markanten Gesichtszüge noch immer unverkennbar. Ihre grossen dunklen Augen schienen mit dem Alter noch an Ausdruck gewonnen zu haben. Sie ging gebückt, benutzte  seit einigen Wochen gar einen Gehstock. Besorgt hatte er dies bemerkt. Ihr Blick meist starr zum Ausgang hin gerichtet. Ob sie ihn wohl noch erkannt hätte; auch an ihm hatten die Jahre das Ihrige getan. Er erschrak jeweils heftig, wenn er sich zufällig auf einem der Fotos seiner Tochter entdeckte.

Freitag um Freitag, Woche für Woche hatte er sich vorgenommen sich ihr erkennen zu geben. Und... Er hatte es nie getan. Bisher! Hatte nicht gewagt sie anzusprechen, wollte nicht noch einmal an alte Trauer anknüpfen. Was zu spät war, und es war schon Jahrzehnte zu spät, dabei musste man es bewenden lassen!

Seit drei Wochen nun schon war sie nicht mehr erschienen. Er war besorgt. War sie krank geworden? War sie bloss im Urlaub, vielleicht bei einem ihrer Kinder? Waren ihr Söhne, Töchter überhaupt je vergönnt gewesen? Ihr wenigstens? Was wusste er schon über sie? Wohnte sie gleich hier um die Ecke oder kam sie mit der S-Bahn aus einem der zahlreichen Vororte hergefahren?

Sie erschien auch heute nicht. Wie sehr hatte er sich doch vorgenommen ihr heute wirklich zu folgen, sie vor der Kirche anzusprechen. Was hatte sie aus ihrem Leben gemacht, wie ging es ihr, was hatte sie regelmässig hierher geführt? Auch sie war nicht Katholikin. Oder vielleicht inzwischen doch? Ja, was wusste er schon über Sie?

Mühsam hatte er sich aus der Kirchenbank erhoben. Der Küster war wie immer um diese Zeit mit dem Einordnen der Gesangsbücher für die kommenden Gottesdienste des Wochenendes und mit dem Anordnen der vielen Mitteilungen auf dem Schwarzen Brett beschäftigt. Sie beide kannten sich nicht mit Namen, und doch grüssten sie sich jeweils freundlich. Wie alte Bekannte. Oft ergab ein Wort das andere.

Ob er, der Küster die ältere Frau kenne, die auch regelmassig freitags hier zum Gebet erscheine und die er jetzt schon länger nicht mehr gesehen habe?

"Meinen's denn die Frau Falke, die feine Dame, die mit dem Stock, die auch immer zum Beten herkommt.  Was sag ich auch? Herkommen ist! Ach herrje. Aber die müssten's doch eigentlich gekannt haben. Sie hat doch auch nach Ihnen gefragt,  hat doch auch Ihren Namen gekannt. Hab erst gar nicht gewusst, wen sie gemeint hat. Ja die Frau Falke, sie hat wissen wollen, wo sie denn so lange geblieben sind. Damals über die Weihnachtstage, als sie einen ganzen Monat lang nicht hergekommen sind. Ich hab's selbst ja gar nicht bemerkt, dass Sie so lang wegblieben sind.“

Der Küster, seine Aufregung kann er kaum verbergen, hat mit seiner Arbeit innegehalten.

„Erst als sie mich gefragt hat, ja, da ist‘s mir dann auch aufgefallen. Aber haben's denn nicht gewusst, dass gute Frau Falke vorige Wochen gestorben ist? Hab doch erst noch ihre Todesanzeige gelesen. Da muss sie gewesen sein. Trauerfeier in der reformierten Theodorskirche? So was! Um Gottes Willen, das versteh nun aber einer. Eine Reformierte, so was! Hier bei uns? Da hab ich ja die Welt nimmer verstanden. Kommt jede Woche zum Beten her. Schon komisch, nur zum Beten! Und ich hab sie nie im Gottesdienst gesehen. Beim Beichten auch nicht. Ja, die gute Frau Falke. Tut mir leid, dass Sie das nicht gewusst haben, das mit ihrer Krankheit. Hab doch wirklich gemeint, Sie hätten sie näher gekannt."

Er war ihm noch nachgeeilt, hielt ihm jetzt eilfertig die schwere Kirchentür auf. "B‘hüets Gott denn! Und nichts für ungut!"




*pcf 2012.

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