Dienstag, 13. November 2012

Hudson River


HUDSON RIVER 1 Volle Fassung



Sie hat ihn erwartet, aber nicht kommen hören, hat sich dann auch nicht nach ihm umgewandt. „Nicht so scheu! Setz dich; hast früher doch auch nicht erst gefragt!“

Ausser Atem streckt er sich neben ihr aus, so als müsse er sich erst von einer langen, beschwerlichen Wanderung erholen. Sie blickt nicht zu ihm auf, möchte auch gar nicht wissen, was das Alter aus ihm gemacht hat.

„Und, wie geht es Dir? Neunundvierzig Jahre sind eine lange Zeit! Erzähl!“

Sie haben kaum Augen für die friedliche Landschaft, welche sich vor ihnen ausbreitet. Direkt unter ihnen weiden einige Kühe, wohl die letzten vor dem grossen Alpabzug. In den Tälern liegen erste Herbstnebel. Und heute Morgen, als sie erwacht ist, haben dunkle schwermütige Wolken jede Sicht versperrt. Sie sind erst gegen Mittag der Sonne gewichen.

„Du hast mir auf keinen meiner Briefe geantwortet.“

„Fünfzehn, wenn du genau sein willst. Ja, und ich habe sie ebenfalls nicht gelesen; ich habe sie verbrannt, einen nach dem andern, jeden einzelnen. Briefe, als hätten mir da noch Briefe helfen können! Als ich dich am nötigsten gehabt hätte, hast auch du mir nicht geantwortet. Dreimal habe ich dir nach Mailand geschrieben. Mein letzter Brief ist als unzustellbar zurückgekommen. Oder hast du leichtfertig und wieder mal ganz locker einfach die Annahme verweigert? Und später, Gerhard, später dann, da war es zu spät,  zu spät für alles.“

Ihre Beine tun ihr weh. Das kurze Wegstück, die wenigen Minuten bis zu dieser Ruhebank, die bekommen ihr nicht. Nicht mehr. Das lange Sitzen ebenso wenig. Letzten Sommer noch, da ist sie wie in all den Jahren zuvor bis zur Alp hoch gestiegen. Gerne wäre sie nur ein paar wenige Schritte gegangen. Hätte sich kurz die Beine vertreten mögen. Gerhard, hat sie doch solange auf ihn gewartet; das kann sie ihm jetzt nicht antun. Und sich selbst ebenso wenig!

„Du hast mich immer missverstanden! Ich bin nicht so leichtfertig durchs Leben getrudelt. Habe auch eine Familie gegründet. Bald danach! Und noch immer bin ich mit meiner Frau zusammen. Meiner ersten, nach dir. Du hast mir misstraut. Hast nichts Besseres gewusst, als wieder und wieder an meiner Ernsthaftigkeit, an meiner Fähigkeit zu Liebe und Beständigkeit zu zweifeln. Warum Alma? Warum? Sag es mir. Alma, ich habe dich geliebt. Immer. Auch heute noch; ich liebe dich wie an unserem ersten Tag. Alma, ich habe dich nie vergessen können. Wir haben nur diese drei Tage für uns gehabt. Hier oben. Aber es sind die schönsten und kostbarsten meines Lebens gewesen. Ich hätte alles aufgegeben. Alles. Für dich!“

„Hast du aber nicht. Hast dich feige davon gestohlen, kaum ist er wieder zurück gewesen.“ Sie seufzt. Schweigt. Wartet. Aber er widerspricht nicht. „Und jetzt, wo bist Du untergekommen? Hier im Kurhaus, in unserem Kurhaus? Aber sicher nicht! Hättest dich nicht gewagt. Wohnst doch gar nicht hier, hätte dir ja längst begegnen müssen.“

„Nein. Alte Bekannte aus meiner Zeit beim Militär. Die müsstest du sogar noch kennen. Nicht weit von hier, im Tal unten haben sie ein grosses Haus, alt eingesessener Landadel. Grosszügige Leute, wirklich“

„Und du? Natürlich wohnst du im Kurhaus? Was anderes hab ich gar nicht erwartet.“

„Wo sonst? Seit Georgs Tod komme ich jeden Sommer hier hoch. Gehöre bald schon zum Inventar. Ja, und dann warte ich hier auf Dich, Tag für Tag. Hast dir lange Zeit gelassen. Gerhard. Sehr lange. Wärst beinahe zu spät gekommen.“

Wiederum schweigen sie. Sie spürt seine angenehme Wärme. Unbemerkt ist er näher gerückt. Auch sein Rasierwasser. Den Geruch hat sie nie vergessen. Wie hat sie dies gemocht! Noch immer pflegt er sich, peinlich auf sein Aussehen bedacht. Hat sich nicht gehen lassen. Bis heute nicht. Sein Alter hat er nicht als Vorwand für all die Nachlässigkeiten vorgeschoben, die das Altern mit sich bringt. Seine Erscheinung ist ihm immer wichtig gewesen. Er ist sich seiner treu geblieben.

„Ja, einen Sohn habe ich.“, erwidert sie. „Ist ebenfalls Arzt. Hat schliesslich dann die Praxis doch nicht übernehmen wollen. Chirurg an der Universitätsklinik. Seine Frau arbeitet in seiner Abteilung, ist ebenfalls Chirurgin. Haben einen Sohn und eine Tochter. Mag sie sehr, meine Grosskinder, auch wenn sie mir jetzt entgleiten, ihre eigenen Wege gehen. Wohnen nicht mehr zu Hause, studieren beide in der Hauptstadt.“

Hat sie bereits zu viel preisgegeben. Beide hängen ihren Gedanken nach. Was hat man sich denn nach so langer Zeit noch zu sagen, da, wo es nur Vergangenheit gibt und es eine Zukunft nie hat geben dürfen? Soviel hätte sie ihm jetzt zu erzählen. Hat ihm ihre Geschichte wohl schon hundert Mal erzählt, hier auf ihrer Bank. Nur da ist er nie dagewesen. Ihre Zeit ist um; was bleibt ihr jetzt noch nachzutragen. Sie hat ihm längst alles mitgeteilt. Alles, damals in ihren drei von ihm verschmähten Briefen. Zu einer Zeit, als noch alles möglich gewesen wäre.

„Frau Haltiner, nicht erschrecken, ich bin’s, nur ich!“ Seit die Frau Haltiner kürzlich zu Tode erschrocken ist, ruft ihr die Köchin immer schon von weitem zu, bevor sie sie zum Hotel zurück begleitet. Und seit ihr bewusst geworden ist, wie die alte Frau in ihrer Anwesenheit immer wieder nervös gewesen ist, verzichtet sie auf ihre nachmittäglichen Plaudereien, hier auf dieser einsamen Aussichtskanzel. Es mag sie; sie versteht diese Wandlung nicht und fühlt sich irgendwie ausgeschlossen. Ausgegrenzt aus etwas, das es zwischen ihnen beiden vielleicht gar nie gegeben hat. Unruhig, ungehalten ist sie ihr jeweils erschienen, als würde sie auf etwas, auf jemanden warten, auf etwas, das vielleicht nie kommen würde. Ungeduldig ist sie in letzter Zeit. Als hätte sie Angst, bei einem heimlichen Stelldichein gestört zu werden. Und dann doch, unversehens wieder die alte Vertrautheit, wenn sie Arm in Arm zurückgehen. Seitdem jedenfalls begleitet sie sie bloss noch auf ihrem nachmittäglichen Spaziergang, zuerst hin und später im Nachmittag dann wieder zurück. Mit zaghaften Schritten. Ängstlich besorgt, dass ihr was zustossen könnte.

„Gerhard! Du musst gehen! Jetzt, ich werde abgeholt. Verena lässt mich nicht mehr unbeaufsichtigt.“

Sie hat sich ihm zugewandt. Besorgt, man würde ihn hier, neben ihr auf der Parkbank entdecken, wenn er nicht rasch genug weg wäre. Ein zufälliger Bekannter, ein Freund, vielleicht sogar ein ehemaliger Geliebter. Nein! Fragen würden sich an Fragen reihen. Sie hätte keine Antwort, keine Erklärung.

Doch, er ist bereits weg. Verschwunden, wie er gekommen ist. Trotzdem. Verzweifelt sieht sie ihm nach, ihm nach, in der Richtung, aus welcher wohl gekommen und in welcher jetzt verschwunden ist. Da weiss sie, dass sie ihn nicht mehr wiedersehen wird. Schon einmal ist er gegangen. Auch damals hat sie ihn nicht zurückgehalten. Hat ihn nicht zurück zu halten vermocht. Auch damals, als er den Bus gestiegen ist. Damals ebenso wie jetzt, auch da schon hat sie gewusst, dass es eine Zukunft für sie beide nie geben würde. Aber nicht geahnt hat sie, dass sie ihm nur wenige Wochen später drei verzweifelte Briefe schreiben würde.

Es geht nicht. Ihre Beine versagen ihren Dienst. Ganz plötzlich, für sie gänzlich unerwartet. Kraftlos entgleitet ihr der Gehstock.

„Sie frieren ja! Du lieber Himmel! Hier im Schatten zu sitzen! Hätte ich gewusst, dass die Sonne jetzt bereits so schnell hinter dem Wald verschwindet, hätte ich Sie jeweils bereits vor meiner Zimmerstunde wieder abgeholt.“ Sie hackt sich zur Linken unter. „Warum haben sie nichts gesagt?“ Die Küchenhilfe, welche sie eiligst herbeigerufen hat, übernimmt die andere Seite. Zu dritt schaffen sie mühsam den kurzen Fussweg zurück bis zum Hotel. Als sie in die Sonne treten, leuchtet die wundervolle Bernsteinkette in Verenas Ausschnitt hell auf. Nicht ihrer Schwiegertochter, nein, Verena, dieser fürsorglichen Köchin hat sie das lange Jahre sorgsam gehegte Schmuckstück ihrer Mutter vermacht. Warum ihr? Dies, eines ihrer letzten Geheimnisse, sie würde es mit sich ins Grab mitnehmen. Und so würde es für immer ihr Geheimnis bleiben. In den vergangenen Jahren und zunehmend besorgter hat Verena ein wachsames Auge gehabt, hat die alte Dame des Öfteren zu deren Lieblingsplatz begleitet, sich mit ihr bisweilen die Zeit mit fröhlichem Geplauder vertan. Alte Geschichten, Erinnerungen, Gedanken einerseits. Hoffnungen und Wünsche, ja auch Vorsätze für eine glückliche Zukunft andererseits. Die etwas schrullige, aber herrlich präsente Frau ist Verena ans Herz gewachsen. Seit einigen Wochen aber sorgt sie jetzt umsichtig dafür, dass jeder dieser täglichen Ausflüge unbeschadet von statten geht. Sie lässt sie kaum noch aus den Augen. Bald sind sie beim Hotel angekommen. Die Bernsteinkette! Sie selbst hat sie nie getragen. Hat sie immer sorgsam aufgehoben. Glücklicher Schauder hat die alte Dame erfasst; sie ist dankbar. Unendlich dankbar für Zuwendung, dankbar für späte Liebe, die ihr hier entgegengebracht wird. Stellt sich manchmal vor hier von ihrer Tochter umsorgt zu werden. Und tatsächlich! Ein unbefangen Entgegenkommender würde in den beiden Frauen unschwer Mutter und Tochter zu erkennen glauben. Denn trotz des markanten Altersunterschieds. Dieselbe Statur, beide gross gewachsen, die eine etwas gebückt. Dieselben hageren Gesichtszüge. Hohe, ausdrucksvolle Wangen. Ähnliche Haarfarbe, die Haare der Älteren allerdings unverkennbar durchzogen von Silberstreifen.

Sie hat lange wohl geschlafen, vielleicht auch nur gedöst. Sie weiss es nicht. „Es ist Zeit für mich. Jetzt möchte ich einfach nur noch zurück in meine vier Wände.“ Den Einwand ihres Sohnes will sie so nicht stehen lassen. „Ich habe da doch alles, was ich brauche, kenne jeden Handgriff. Frau Lehmann kauft für mich ein, kocht und putzt. Lass mich. Lass mir meine letzten Tage, Wochen.“

 „Deine Fieber kriegen wir nicht runter. Mutter. Morgen früh fahren wir zurück. Deine Lungen gefallen mir überhaupt nicht. Dein Herz hat Mühe.“ Er ist wieder an ihr Bett getreten, legt seine Hand behutsam auf die ihre. „Fürs erste einmal kommst du zu mir. Ich will dich im Spital gründlich untersuchen lassen. Diese Köchin, alle paar Stunden hat sie nach Dir geschaut. Sie ist mir sehr besorgt erschienen, macht sich grosse Vorwürfe, fürchtet, das lange Sitzen auf dieser Parkbank sei dir nicht gut bekommen.“

„Nein, nach Hause will ich! Und ein Altenheim kommt für mich nicht in Frage! Das weisst du.“, setzt sie nach.

Er insistiert nicht weiter. Weiss, dass jedes Beharren jetzt kaum Sinn machen würde. Gestern, früh morgens ist er angekommen. Seine Mutter sei seit vergangenen Nachmittag bettlägerig. Er versteht die Sorge der Hoteldirektion nur zu gut. Längst nur noch dem Namen nach ist dies ein Kurhaus. Dennoch! Alle haben sich liebevoll um ihren Stammgast gekümmert. Dass man nicht eingerichtet und in der Lage zu längerer Krankenpflege sei, hat ihn nicht überrascht, hat ihn aber bestärkt in seinem Vorsatz so bald als für sie zumutbar mit ihr ins Tal zu fahren und ihr die unerlässliche ärztliche Betreuung zukommen zu lassen. Mit dem wenigen, was er mitgebracht hat, ist er nicht in der Lage sie fachgerecht zu untersuchen, geschweige denn zu behandeln. Trotz des besorgten Anrufs, er hat nicht ahnen können, wie schlimm es um sie steht. Auch der von der Hotelleitung herbeigerufene Hausarzt hat offenbar nicht weiterhelfen können. Deshalb noch spät in der Nacht gestern der Hilferuf.

Gemeinsam haben sie das Bett hochgestellt. Verena und er. Jetzt sitzt er neben ihr. Ihr Puls hat sich wieder etwas normalisiert. Ebenso, das Atmen, es geht wieder besser. Sie sieht ihm mit wachen Augen zu, wie er in der wenigen Post, die er von zu  Hause mitgebracht hat, blättert. Ihre Post.

„Nur einige Dankesbriefe von wohltätigen Organisationen, das Übliche eben.“ Sie kennt seine Einstellung zur Entwicklungshilfe. „Verschwendetes Geld“, hat er einmal ihre grosszügigen Spenden kommentiert. „Damit hilft man niemandem. Das sagen selbst Afrikaner, geschulte, erfahrene Wissenschaftler, welche es wirklich wissen müssten. Schult sie, ihre Forderung. Gebt ihnen Arbeit und Verantwortung und entlastet nicht euer schlechtes Gewissen mit immer noch mehr nutzlosen Spenden. Dasselbe wie in all diesen Staaten, welche vor lauter Bodenschätzen geradezu überquellen. Nur Korruption, das ist alles, was ihr mit dem vielen Geld erreicht.“

Sie hat ihn reden lassen, hat sich all dieser Schrecken erinnert, von denen ihr Mann jeweils nach seiner Rückkehr von seinen Einsätzen in den heruntergekommenen Spitälern berichtet hat. Dennoch, wie sollte sie helfen? Sie? Wie anders als mit ihren Spenden? Was sie erübrigen kann, lässt sie Hilfswerken zukommen.

„Die Rechnungen sind alle bereits bezahlt; ich habe sie nicht mitgebracht. „Haltiner, der Absender“, per US mail? Letzte Woche aufgegeben. Du, ich habe nicht gewusst, dass wir dort Verwandte haben. Soll ich Dir vorlesen?“.

Sie hat gezögert. „Schwierig zu lesen, diese Handschrift. Ich versuche gleich zu übersetzen, so gut es geht. Da schreibt dir eine Julia wegen einem „Gerhard Haltiner“, offensichtlich ihr Vater. Sie habe „attached to his will“, also bei seinem Testament eine note gefunden, man solle euch unmittelbar nach seinem Tod benachrichtigen. Er ist, so schreibt sie weiter, sehr lange krank gewesen und schliesslich bei ihr, in ihrem Haus gestorben. Sie hätten die Pflege übernommen, da Jack – ich weiss zwar nicht, wer dieser Jack ist – da Jack in der Army sei und nun von einem zum nächsten Krisengebiet geschoben werde. Sie sende entsprechend seinem Wunsch jetzt zwar diese Nachricht von seinem Tode, wisse aber leider nicht, wer Alma und Georg seien. Auf eine Abdankung und ein eigentliches Begräbnis habe man seinem Wunsch entsprechend ausdrücklich verzichtet. Seine Asche, ergänzt sie da noch, hätten sie und ihr Bruder gemäss seinem letzten Willen gestern Nachmittag über dem Hudson-River verstreut.“

Sie hat ihm nachdenklich zugehört. Er meint Tränen in ihren Augen gesehen zu haben. Mag sich auch getäuscht haben. Doch inzwischen scheint sie wieder eingeschlafen zu sein. Vielleicht versucht sie sich auch nur zu erinnern. Was weiss sie über diesen grossen Unbekannten? Verwirrt legt er den Brief zur übrigen Post und beginnt ihren Koffer zu packen, alles, was sie heute und morgen früh, bis zur Abreise, bestimmt nicht mehr brauchen wird.

Das weitherum bekannte Kurhaus. Seit an die zehn Jahre nun, hat sie immer wieder hartnäckig darauf bestanden jeweils im Sommer für mehrere Wochen hierher zu kommen. Etwas anderes ist für sie nicht mehr in Frage gekommen. Ihr besonderes Verhältnis zu dieser Köchin ist ihm nicht verborgen geblieben. Er hat sich nicht viel dabei gedacht. Hat nie nach dem Grund gefragt. Wie oft hat er seine Mutter nicht oder ganz einfach falsch verstanden. Seine hilflosen Versuche sie zu überreden mit ihnen und ihren Grosskindern nach Elba zu kommen, hat sie ein ums andere Mal strickte abgelehnt.

Nur einmal noch, damals, unmittelbar nach Vaters Tod hat sie gewünscht mit ihm zu verreisen, für einige Tage nach Mailand zu fahren. Der fantastisch anmutende Dom und all die andern Sehenswürdigkeiten aber haben sie unbeeindruckt gelassen. Nach einer Adresse in einer beliebigen Geschäftsstrasse hat sie ihn geheissen zu suchen. Gleich bei ihrer Ankunft. Als sie beide vor dem modernen Bürogebäude gestanden sind, hat sie jedoch ganz offensichtlich jedes Interesse an Mailand bereits wieder verloren gehabt und auf baldiger Heimkehr bestanden. Nur eine Nacht sind sie geblieben.

Nie mehr, auch nicht ein Wort mehr hat sie über Mailand und ihren kurzen Ausflug verloren. Sein gelegentliches Nachfragen nach der Bedeutung dieser Adresse hat sie immer wieder ins Leere laufen lassen.

Erst kurz vor der Nachtessenszeit erwacht sie und bittet ihn zu ihr ans Bett zukommen. Mit schwacher Stimme hat sie ihn vom Balkon hereingerufen.

„Es ist Zeit für mich.“ Hat sie wiederholt. „Zeit auch für das traurige Finale! Natürlich hast Du nichts von Gerhard Haltiner wissen können, hast auch nichts von all dem wissen dürfen. Das habe ich deinem Vater hoch und heilig versprechen müssen.  Und dabei ist es geblieben. Bis zu seinem Tod unser streng gehütetes Geheimnis.“ Nachdenklich, zögernd, mit unsicherer Stimme fährt sie fort: „Jetzt ist er tot, Gerhard auch. Jetzt hindert mich nichts mehr. Wie du weisst, ist Dein Vater in jungen Jahren die meiste Zeit an Spitälern quer durch Afrika beschäftigt gewesen. Bei seiner kurzen Rückkehr jeweils ist er mir von da weg wie ein Fremder erschienen. All das Elend hat ihn aufgefressen. Welche Enttäuschung, welcher Frust für mich! Damals, wie wir uns im Spital kennengelernt haben, da habe ich mich gleich Hals über Kopf in den jungen, fröhlichen und zu allen Spässen aufgelegten Assistenzarzt verliebt. Zwei Jahre haben wir unverheiratet zusammengelebt. Ich noch als Krankenschwester in derselben Abteilung. Unverheiratet! Ein Skandal zur damaligen Zeit. Unerhört! Da hätte es wenig gebracht, wenn wir unseren Eltern hätten erklären wollen, dass wir uns die Wohnung unmittelbar in Nähe des Spitals nur würden leisten können, wenn wir unsere bescheidenen Verdienste zusammenlegen. Felix, das sind unsere schönsten Jahre gewesen. Verliebt und unbeschwert haben wir unser kleines bescheidenes Lotterleben genossen. Kurz nach unserer Hochzeit aber, da hat mein Georg dann diese Dienste für die Entwicklungshilfe übernommen. Deine ersten Jahre hat er gar nicht bewusst miterlebt. Hat dich kaum wahrgenommen. Ich bin allein gewesen mit dir. Alleingelassen, auf mich gestellt. Da magst du dich nicht mehr erinnern. Gross ist unsere gemeinsame Freude gewesen, als ich dann wieder schwanger geworden bin. Nach der missglückten Geburt deiner Schwester ist er endgültig hier geblieben und hat die Praxis eröffnet. Über den Tod meines kleinen Mädchens bin ich dennoch nie hinweggekommen. Das alles kannst du nicht wissen. Für mich ist es unendlich wichtig gewesen, dich meine Trauer nie spüren zu lassen. Ich habe mir alle Mühe gegeben, für dich da zu sein. Nur für dich. Das einzige, was mir geblieben ist. Ausser der Trauer. Immer aber habe ich mir vorgestellt, wie meine Tochter jetzt aussehen würde, wie sie lachen, weinen, aufwachsen und sich am Leben freuen würde. Bin ich einem hochgewachsenen jungen Mädchen mit lockigen braunen Haaren begegnet, einem, das Julia hätte sein können, ist für mich wiederum eine Welt in sich zusammengebrochen. Unsere Ehe ist schliesslich daran zerbrochen und den Rest kennst Du.“

„Das erklärt immer noch nicht, was es mit diesem Gerhard auf sich hat.“

Ist sie wieder eingeschlummert? Hat sie sich überfordert? Hat die Vergangenheit sie eingeholt?

Nach einer langen Pause fährt sie fort. „Deinem Vater habe ich versprochen, dir nie von Gerhard zu erzählen. Vaters und sein Tod entbinden mich von diesem Versprechen. Vater ist nicht dein Vater. Gerhard ist sein Zwillingsbruder, sein Zwillingsbruder gewesen. Unsere drei verbotenen Tage, Gerhards und meine, Felix, hier in diesem Kurhaus, darum gibt es dich. Diese Tage sind für mich unvergesslich. Gerhard ist für mich plötzlich all das gewesen, was ich an meinem Mann in unseren ersten Jahren so geliebt und später so schrecklich vermisst habe. Fröhlich, liebevoll, voller Zärtlichkeit und Hingebung ist er gewesen. Nach diesen drei Tagen ist er wieder nach Mailand zurückgekehrt. Wir haben nie mehr voneinander gehört. Und ich habe gebüsst, mein ganzes Leben lang. Gebüsst auch mit dem unverdienten Tod unserer Tochter, Georgs und meiner Tochter. So habe ich mir das in meiner Verzweiflung zu Recht gelegt. Nur so habe ich lange Zeit diesen Schicksalsschlag verstehen können. Georg, ungefragt hat er dich als seinen Sohn anerkannt und das ohne dich je in Frage zu stellen. Er hat mir zur einzigen Bedingung gemacht, dass es Gerhard, für mich, für uns, für Dich nie gegeben hat. Dein Vater und damit meine ich wirklich Georg. Er hat dich geliebt, hat alles in seiner Macht stehende für dich getan. Du willst es noch heute nicht glauben. Dass du seine Praxis nicht weitergeführt hast, das hat er dir bereits lange vor seinem Tod verziehen. Verziehen, als er erst einmal begriffen hat, dass du nicht feige den endlosen rücksichtslosen Anforderungen einer Allgemeinpraxis auf dem Land hast ausweichen wollen. Sondern dass auch in dir das Feuer gebrannt hat und dass du deine Zukunft eben als Chirurg und als eifriger Lehrer deiner Studenten und eben nur als das gesehen hast. Ja, du hast ihm, uns den Rücken gekehrt. Und dennoch, unsere letzten vier gemeinsamen Jahre, Georg und ich, als wir endlich wieder zueinander gefunden haben, sie sind unser spätes Glück gewesen. Haben uns entschädigt dafür, was wir in jungen Jahren leichtfertig aufgegeben haben. Weil mir nicht mehr weiter gewusst haben.“

Als Verena nach ihrem kurzen Urlaub die Todesanzeige in den Händen hält, da ist Alma bereits seit einer Woche tot und ihre Asche in alle Winde verstreut gewesen.





*pcf 2012.

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