Sonntag, 12. Februar 2012

Griechische Inseln (Teil 2)


 
Verwirrt blickte sie von ihren Notizen auf.

Rechter Hand die grossartige Sicht auf das Panorama der nahen Alpen. Im Dachgeschoss hatte sie sich, bald nachdem sie zu arbeiten begonnen hatte, ihr Arbeitszimmer eingerichtet, ihre eigene Welt. War sie in die Arbeit vertieft, duldete sie weder Ehemann noch Sohn um sich. Wehe, wenn jemand ihre Aufzeichnungen auch nur anrührte. Gleichermaßen erachtete sie das gelegentliche Abstauben und Ordnung machen als ausschliesslich ihre Aufgabe. Ihre Wirtschafterin hatte nur einmal versucht ihr an die Hand zu gehen. Unmittelbar zu ihren Füssen der beinahe noch winterliche See. Nebelfetzen, welche der Sonne bisher widerstanden hatten. Nur zwei Segelboote waren auf der weiten silbernen Fläche auszumachen. Die Linienschiffe würden erst im späteren Frühjahr wieder beginnen ihre endlosen Runden zu drehen. Manchmal zog sie sogar die Vorhänge um nicht abgelenkt zu werden.

Und jetzt war an ein Weiterschreiben nicht zu denken. Verwirrt trug sie Datum und Zeit in ihren Kalender ein. Im Buffet de la Gare würden sie sich treffen. Fantasielos aber logisch, wenn er, wie er sagte, auf der Durchreise war. Einige Fragen habe er zu ihrer Tante, zu weiteren Verwandten, zu ihr selbst. An die vierzig Jahre hatten sie nichts mehr voneinander gehört. Nicht einmal die Adresse hatte sie ihm damals nach ihrer Rückkehr aus den Vereinigten Staaten angegeben. Ihm, einem schon beinahe vergessenen Jugendfreund? Wozu auch? Ihr Briefwechsel war nach wenigen Wochen bereits eingeschlafen; worüber hätten sie sich auch schreiben sollen? Sie genoss ihr neues Leben in vollen Zügen, nahm begierig  alles Fremde, Neue in sich auf, hatte bald einen Kreis neuer unterhaltsamer attraktiver Verehrer um sich geschart. Doch ganz freiwillig hatte sie ihre Reise nicht angetreten. Mit ihrer Mutter war sie dauernd am Streiten. Dieses lockere Leben, wie sie es nannte, hatte sie ihr nicht gegönnt. Schliesslich hatte ihr Vater eingewilligt sie bei sich aufzunehmen.  Bald jedoch hatte es sie hinüber an die Westküste gezogen. Ihre ausgefallene Studienrichtung hatte bloss als billiger Vorwand herhalten müssen. Ihr Vater hatte sie durchschaut, aber schliesslich nachgegeben, war er doch mit seiner eigenwilligen Tochter genau so wenig klar gekommen.

Jahre später, bald nach ihrer Rückkehr, da hatte sie tatsächlich Gefallen an dem blitzgescheiten und strebsamen Physiker gefunden. Doch, so viele Zufälle hatte es gar nicht geben können; ihre Hochzeit war arrangiert worden, da machte sie sich nichts vor. Ihre beiden Familien jedenfalls waren sich einig und waren glücklich über die möglich gewordene Zusammenführung ihrer Güter - sie alleinige Erbin und er vom Schicksal ebenso begnadet. Die Zeit vor der Hochzeit war konfus verlaufen, zu turbulent, als dass sie sich der Humorlosigkeit und Langweiligkeit ihres Künftigen beizeiten hätte bewusst werden können. Schon bald nach der Geburt ihres Sohnes hatten sie sich einvernehmlich arrangiert. Sie hielt sich nicht im Geringsten an eheliche Konventionen. Er war im Gegenzug wochenweise auf Geschäftsreisen und machte keinen Hehl aus seinen finsteren Neigungen.

Thomas wollte sie sehen! Dunkel nur erinnerte sie sich an ihn. Während ihrer Schulferien, als kleines Mädchen schon, schob man sie regelmässig zu ihrer Tante in dieses gottverlassene Dorf ab. Niemand hatte jemals wirklich Zeit für sie gefunden, auch als ihr Vater noch lange nicht das Weite gesucht hatte. Mit ihrer Tante kam sie gut zu Recht. Diese war kinderlos geblieben und nahm ihre Nichte bereitwillig auf, war stolz auf das aufgeweckte hübsche Mädchen. Thomas, der grosse, schlanke Junge im Nachbarhaus war ein verträumter Schwärmer gewesen. Eine unschuldige Jugendfreundschaft hatte sich ergeben. Wenn er mehr darin gesehen hatte, so war das sein Problem gewesen, nicht ihres.

Das Treffen war ganz anders verlaufen, als sie sich dies vorgestellt hatte! Natürlich hätte sie ihn ohne die vereinbarte Tageszeitung auf seinem Tisch nicht erkannt. Thomas entpuppte sich als charmanter Gesprächspartner, war zuvorkommend, interessierte sich für sie und… Er schien von ihr angetan und sparte nicht mit Komplimenten. Ein erfahrener, interessanter  Mann, einnehmend; spannend sich mit ihm zu unterhalten. Der Nachmittag verging im Flug.

Keine zwei Wochen später schlug er ihr eine weitere Begegnung vor, erst ein Spaziergang dem See entlang und dann ein gemütliches Abendessen. Ihr Sohn war im Skilager; also würde ihre Abwesenheit niemanden stören.

Danach sein Urlaub, mit Familie, wie er auffällig deutlich betont hatte. Gleich nach seiner Rückkehr dann dennoch der mehr als aufschlussreiche Vorschlag für ein Wiedersehen, diesmal in dem romantischen Hotel, gelegen auf markanter Anhöhe über dem See. Und da bereits gab es für sie  keine Zweifel mehr. Sie hatte ihn richtig eingeschätzt und hatte sich, kaum der letzten Affäre entronnen, soeben in der nächsten verfangen. Die Ernsthaftigkeit, mit der er die Sache anging, hatte sie verblüfft und erregt. Dabei hätte sie es gleich schon zu Beginn besser wissen müssen; weit mehr war Thomas als ein Träumer! In dieser Beziehung hatte er sich wohl nicht verändert. Er war anspruchsvoll, gab sich nicht mit Alltäglichem zufrieden. Als sie entzückt sein Mitbringsel öffnete, war für sie auch gleich klar, wohin seine Neigungen zielten. Hatte sie sich in den vergangenen Jahren zunehmend mit flüchtigen Begegnungen zufrieden gegeben, welche eher One-Night-Stands gleich kamen, verstrickte sie sich nun in eine Beziehung, welche versprach, sie endlich wieder in ungeahnte Höhen und Tiefen zu entführen.

Seine vagen Schilderungen, er sprach zwar beharrlich mit Ehrfurcht und Hochachtung von seiner Ehefrau, überzeugten sie bald, dass ihr von dieser Seite keine Konkurrenz erwachsen würde. Wollte er tatsächlich wieder an ihre gemeinsame Jugend anknüpfen? Er war verliebt wie ein kleiner Junge. Sie mochte ihn durchaus, erhoffte sich willkommene Abwechslung und Inspiration, denn mit ihrer Schreiberei war sie eben an einem Tiefpunkt angelangt. Sie freute sich auf seine Anrufe und nahm seine immer neuen übermütigen Vorschläge dankbar an. War er wieder weg, ging sie jeweils zügig zur Tagesordnung über. Undankbar war sie nicht und sie liess ihn auch nie leer ausgehen, wusste zu gut was Männer von ihr wollten. Das Eine, was sie schon immer von ihr gewollt hatten. Ihr sollte es recht sein; sie hielt sich auf ihre Weise schadlos. Früh bereits hatte sie lernen müssen, dass es ihr offenbar bestimmt war fortwährend über ihre eigene Attraktivität zu stolpern und dass man von ihr kaum je mehr erwartete. Nicht von ungefähr war sie in ihren Jugendjahren bisweilen ungeniessbar gewesen. Dankbar floh sie nach USA, nur weit weg von den ihr lästig gewordenen Verehrern!

***

Drei gemeinsame Tage wiederum in diesem altehrwürdigen Hotel am See hatten sie geplant. Sie griff zum Telefon, stornierte kurz entschlossen die Zimmerbuchung und vergewisserte sich, dass die Eintragung im Belegungsplan auch  sogleich unkenntlich gemacht werden würde. Niemand sollte sich ihrer abgesagten Reservation mehr erinnern, wenn er sie eine Woche später bei seiner Ankunft vermissen und sich besorgt nach ihrem Verbleib erkundigen würde. Wie immer, vorsichtig, wie sie waren, hatten sie ihre Zimmer getrennt reservieren lassen.

Wie hätte sie jetzt auch mit ihm Kontakt aufnehmen und ihn auf ein späteres Wochenende vertrösten sollen? Er hauste mit seinen Freunden in einer abgelegenen Alphütte. Ein bis zwei Male im Jahr gingen sie für eine Woche wandern und überboten sich dabei gegenseitig mit ihren Kochkünsten. Seit einiger Zeit nutzte er diese kostbaren Gelegenheiten allerdings auch um mit ihr zusammen zu sein. Er stiess jeweils später zu seinen Freunden oder verabschiedete sich früher von ihnen.

Diesmal aber würde sie ihn versetzen.

Alles war bereits geklärt, seit zwei Wochen hatte sie ihren Vertrag als Redaktorin und Moderatorin einer periodischen Literaturrunde im regionalen Fernsehen in der Tasche. Über Ziele ihres Auftrags, über Konzept, Umfang und Budget bestand Einigkeit. Schon mehrfach hatte sie ähnliche Aufgaben übernommen. Der Programmdirektor hatte jedoch auf diesem verlängerten Wochenende bestanden. Es war beileibe nicht ihr Vorschlag gewesen. Er wollte mit ihr das Konzept in allen Einzelheiten durchgehen. Sie hatte spontan zugesagt, wohl wissend, dass es keine Möglichkeit gäbe Thomas vorgängig zu informieren. Elektrizität und Telefonanschluss gab es nicht in dieser Alphütte. Mobile Telefonie war noch nicht erfunden worden.

Alf, den Programmdirektor kannte sie schon seit vielen Jahren flüchtig. Eine spannende Persönlichkeit mit weit gestreuten Beziehungen! Schwärmte sie für ihn? Als seine Sekretärin mit ihr den Termin vereinbart hatte, war für sie gleich fest gestanden, dass sie beileibe nicht das ganze Wochenende ausschliesslich für ihre Konzeptdiskussion brauchen würden.

Was erwartete sie eigentlich noch von Thomas. Seit sieben Jahren zog sich ihre Amour-Fou nun schon hin. Ihr kecker Vorschlag damals in Venedig hatte ihn zwar mehr beschäftigt, als sie erwartet hatte. Geschwärmt hatten sie von einem Häuschen, versteckt in einem Pinienhain irgendwo auf einer Insel im griechischen Archipel, fernab aller Verpflichtungen und losgesagt von ihren beiden Familien! Ihr gefiel diese frivole Vorstellung, doch durchschaut hatte sie ihn sogleich. Nie würde er ausbrechen und seine Ehefrau verlassen. Die Reise nach Venedig allerdings hatte einen bitteren Nachgeschmack hinterlassen. Seine Frau wunderte sich ausserordentlich über seinen herrlich gebräunten Körper, hatte doch im Wandergebiet, wo er angeblich mit seinen Freunden ausharrte, ausschliesslich miserables Wetter geherrscht. Etwas hatte sich verändert! Sprach sie Thomas später auf ihre Vision von Griechenland an, wich er ihr aus. Was hatte sie anderes erwartet? Die Affäre, von welcher sie sich in den Anfängen deutlich mehr versprochen hatte, begann sie zu langweilen. Nun aber taten sich für sie zweifellos andere Chancen auf!

Zu einer Tageszeit, wo er sie allein zu erreichen hoffte, rief Thomas an, machte seinem Ärger über das verpfuschte Wochenende Luft. Sie zeigte sich überrascht. Sie habe, gab sie ihm scheinheilig zu verstehen, ebenfalls vergeblich in dem Hotel auf der gegenüberliegenden Seeseite, das sie beide ja ebenfalls bestens kannten, auf ihn gewartet. Wo er geblieben sei? Ihr Fehler? Er liess sie nicht argumentieren, sondern warf ihr verdrossen vor nicht nur ihre Termine, nein auch ihr ganzes Leben nicht im Griff zu haben. Sie liess ihn reden, hängte schliesslich auf. Er konnte sogar seine Wut
kommunizieren; dies hätte sie so gar nicht erwartet.

Alf hatte ihre Hoffnungen nicht enttäuscht und er war derzeit nicht einmal gebunden, hatte keine Verpflichtungen. Dies wusste sie von einer gemeinsamen Bekannten.

Der Brief erreichte sie nur wenige Tage später. Billig und lächerlich Peinlich genug! Kaum zu glauben! Thomas Frau hatte die Quittung für Hotelübernachtungen gefunden, zu der es nichts mehr zu erklären, wohl aber vieles zu beichten gab. Das mit dem Einzelzimmer hatte sie ihm nicht abgenommen. Offensichtlich hatte sie das Unheil längst geahnt.




*pcf 2012

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