Donnerstag, 15. Dezember 2011

Verschmähte Fischsuppe

Verschmähte Fischsuppe

Da sassen sie nun in diesem kleinen, etwas verlotterten, aber urig gemütlichen Restaurant unmittelbar an der Pier. Auf der ihnen abgewandten Seite eines kleinen Mäuerchens, direkt an Strand, einige alte Fischer, damit beschäftigt, die geschundenen Netze ihrer Söhne zu flicken und sich nachdenklich in Erinnerungen an ihre eigenen grossen Fänge zu verlieren. Das noch so ganz urtümliche Fischerdorf. Ihre Ferieninsel, ihre ersten gemeinsamen Urlaubstage, damals, jung verliebt, noch mit wenig und kaum etwas zufrieden.

Oder hatten schon damals Zweifel an ihm genagt?

Nicht mehr wieder zu erkennen, ihre Ferieninsel, jetzt, längst nicht einmal zwanzig Jahre später. Er heute direkt nach dem letzten nervenaufreibenden Meeting mit einem seiner Mandanten und sie von irgend einer der grossen Bühnen dieser Welt hergeflogen. Der Tod ihrer Mutter hatte sie einander wieder näher gebracht. Ihre Chance, vielleicht ihre letzte, nochmals ein Neuanfang.

Noch immer plaudern die Fischer, träumen ihrer einstigen, grossen gemeinsamen Zeit nach, halten manchmal inne in ihrer Arbeit, verdrängen, dass nicht nur ihre, sondern auch die Tage ihres noch so ursprünglichen Fischerdorfs wohl allmählich gezählt sind. Die Hotelkomplexe haben sich aus dem benachbarten Ort bereits bedrohlich herangeschoben. Der kilometlange Strand zu schön, zu breit, zu verlockend um nicht in allen Ferienprospekten dieser Welt angepriesen zu werden.

Sie ist unvermittelt aufgestanden, hat ihre Fischsuppe unberührt stehen gelassen.
Er hat gewusst, geprägt von jahrelanger bitterer Erfahrung, dass ein Versuch sie jetzt noch aufzuhalten, ein gänzlich sinnloses Unterfangen gewesen wäre. Jetzt da sie ihm einmal mehr verbittert vorgeworfen hat, ihr nicht einmal zugehört zu  haben.

Noch lange hat er dem ausnehmend hübschen Mädchen, nein wohl eher der jungen Frau,  mit ihrer Mutter nachgeschaut, als sie von ihrem Tisch aufgestanden und dem sich in unendlichen Weiten verlierenden Strand entlang gewandert sind und er sie schliesslich im Gedränge der fernen Feriengäste endgültig aus den Augen verloren hat. Die Nacht inzwischen hereingebrochen. Sinnlos, ja unmöglich ihnen nachzueilen. Sinnlos, die Zeit zurückzudrehen, an Verlorenes noch einmal anzuknüpfen. Alles ist wieder da gewesen. Die WG in dieser verträumten Universitätsstadt. Ihre zu allen Spässen bereiten Mitbewohnerinnen. Die fröhlichen gemeinsamen Ausflüge, aber auch die stillen intimen Augenblicke irgendwo auf einer versteckten Parkbank. Die alles verzeihende Dunkelheit endlich hereingebrochen. Und dann war sie plötzlich weg gewesen, wie ausgelöscht, sprichwörtlich, wie vom Erdboden verschwunden. Einsilbig nur hatten ihre damaligen Mitbewohnerinnen Auskunft gegeben. Nichts hatte er anfangen können mit dem Wenigen, was sie ihm hatten verraten wollen, vielleicht auch hatten verraten dürfen. Ihre Tochter, jetzt, ihr wie aus dem Gesicht geschnitten. Kein Zweifel möglich. Unverwechselbar. Zuerst hat er die Mutter gar nicht wahrgenommen, hat sie ihm doch den Rücken zugekehrt. Er kennt sich da nicht so aus, hat ja nie eigene Kinder gehabt. Aber ihre gemeinsame Tochter, sie müsste jetzt etwa im Alter dieser jungen lebhaften Frau sein, wäre es je soweit mit ihnen beiden gekommen, hätten sie zusammen eine Tochter, überhaupt ein gemeinsames Kind gehabt. Alles wäre wohl anders gekommen. Mit seinem Ehrgeiz war er in seinem Studium aufgegangen, hatte oft seine Umwelt kaum noch wahrgenommen, auch seine anmutige herzensgute Freundin. Diese junge Frau, sie hat ihn das Heute, seine eigene Fischsuppe, seine ungeduldige Frau, die plaudernden Fischer, alles vergessen lassen.

Als er in ihre gemeinsame Suite zurückkehrt, sind ihre Koffer bereits weggebracht worden. Er hat nichts anderes erwartet. Irgendwo, wird sich eine Spur finden lassen. Warum hatte er sich damals mit den nichtssagenden Auskünften zufrieden gegeben, hatte nicht unablässig weiter gesucht. Mit der ihm eigenen Systematik, Sorgfalt und Ausdauer, welche auch seine Mandanten an ihm jetzt so  schätzen wissen.
*pcf 2011

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