Donnerstag, 29. Februar 2024

 Hudson River 2: Eine Neuerzählung


Als Alma am Ufer des Hudson Rivers saß, erwartete sie ihn, hörte aber nicht seine Schritte. Sie drehte sich nicht um, als er sich atemlos neben sie setzte, als wäre er von einer langen, beschwerlichen Reise erschöpft. Alma vermied es, ihn anzusehen, neugierig darauf, was die Zeit aus ihm gemacht hatte.


„Wie geht es dir nach all den Jahren? Neunundvierzig, um genau zu sein“, begann er das Gespräch.


Um sie herum entfaltete sich eine friedliche Landschaft – Kühe grasten, und in den Tälern lag der erste Herbstnebel. Doch ihre Aufmerksamkeit galt nicht der Natur, sondern den ungelösten Fragen der Vergangenheit.


„Warum hast du nie auf meine Briefe geantwortet?“, fragte er.


„Fünfzehn Briefe, ungelesen, verbrannt“, antwortete sie kalt. „Als ich dich am meisten brauchte, hast du mir auch nicht geantwortet. Meine Briefe kamen als 'unzustellbar' zurück. War das Absicht, Gerhard? Später war es zu spät für alles.“


Alma fühlte Schmerz in ihren Beinen. Die kurze Wanderung zur Bank fiel ihr schwer. Letzten Sommer hatte sie noch die Alp erklommen, doch jetzt sehnte sie sich nach ein paar Schritten zur Erleichterung.


„Du hast mich immer missverstanden, Alma“, sagte Gerhard. „Ich habe geheiratet, eine Familie gegründet. Ich liebe dich noch immer, wie am ersten Tag.“


„Aber du bist gegangen, als er zurückkam. Feige“, erwiderte sie und schwieg. Sie wartete auf seinen Widerspruch, aber es kam keiner.


„Wo wohnst du jetzt?“, fragte sie.


„Bei alten Militärfreunden im Tal. Und du? Im Kurhaus?“


„Ja, seit Georgs Tod. Ich warte hier jeden Tag auf dich, Gerhard. Fast zu spät.“


Sie saßen schweigend da, Alma spürte seine Nähe. Sein Rasierwasser, der vertraute Duft. Er hatte sich gehalten, äußerlich und innerlich.


„Ich habe einen Sohn, auch er ist Arzt“, sagte Alma. „Seine Familie lebt in der Hauptstadt.“


Ihre Gedanken schweiften ab. Was blieb nach so langer Zeit noch zu sagen? Sie hatte ihm bereits alles in ihren Briefen mitgeteilt, in einer Zeit, als noch alles möglich schien.


„Frau Haltiner, ich bin’s, Ihre Köchin“, hörte sie und wusste, es war Zeit zu gehen. Verena, die Köchin, war besorgt um sie, ließ sie nie lange allein.


„Gerhard, du musst gehen. Jetzt“, sagte sie hastig.


Als sie sich umdrehte, war er verschwunden. Alma wusste, sie würde ihn nicht wiedersehen. So wie damals, als er den Bus bestiegen hatte, hatte sie ihn gehen lassen.


Plötzlich versagten ihre Beine, der Gehstock entglitt ihr. „Sie frieren!“, rief Verena, als sie Alma in die Sonne führte. Alma hatte ihr die Bernsteinkette ihrer Mutter vermacht, ein Geheimnis, das sie mit ins Grab nehmen würde.


Alma lag im Bett, ihr Sohn an ihrer Seite. „Ich will nach Hause“, sagte sie, doch ihr Sohn bestand darauf, sie ins Krankenhaus zu bringen.


„Gerhard Haltiner ist tot“, offenbarte ihr Sohn später, als er ihr einen Brief vorlas. Gerhards Asche war über dem Hudson River verstreut worden.


Alma schlief ein, überwältigt von der Vergangenheit. Ihr Sohn verstand jetzt die Tiefe ihrer Geheimnisse nicht. Das Kurhaus, ihre Verbindung zu Verena, die unerwiderte Liebe zu Gerhard.


Als Alma starb und ihre Asche in den Wind verstreut wurde, blieb ihr Sohn zurück, erfüllt von Fragen und einem tiefen Verständnis für die Frau, die seine Mutter war – eine Frau, gezeichnet von Liebe, Verlust und Geheimnissen, die sie bis zum Ende bewahrt hatte.



PCF2024

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